Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeichnet sich das Ende eines rätselhaften Rückzugs ab, der sich Jahre zuvor ereignete: Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas Manns „Der Zauberberg“, steigt zu Beginn des tausendseitigen Romans als „des Lebens treuherziges Sorgenkind“ in eine Eisenbahn, die ihn ins Davoser Sanatorium Berghof führt. Eine vergiftete Lunge (oder ein vergifteter Kopf?) machen aus dem geplanten dreiwöchigen Besuch eine sieben Jahre andauernde Verzauberung.
Ursprünglich wollte Thomas Mann ein humoristisches Gegenstück zum „Tod in Venedig“ schreiben. Er begann 1913 daran zu arbeiten, in eben dem Jahr, in dem auch das zweitletzte Kapitel des Romans, „Die grosse Gereiztheit“, spielt. Darin wird die feine Gesellschaft lungenkranker Sanatoriumsgäste in den Schweizer Alpen von einer Nervosität erfasst. Meisterhaft beschreibt Thomas Mann eine Stimmung aus Aufgewühltheit und plötzlich hervorbrechender Wut: „Was gab es denn? Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Ge-reiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wort-wechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei (…) Man erblasste und bebte“.
Trotz Wolldecken und Liegestühlen erfasst ein Unbehagen die Luxuswesen und macht den der Welt Abhandengekommenen deutlich, dass ihre Isolation eine Fiktion ist: Das Leben auf dem Zauberberg ist ein „Dasein“, das „von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt“ (Martin Heidegger). Hans Cas-torp, Clawdia Chauchat, Ludovico Settembrini, Doktor Behrens, Frau Stöhr und die anderen – sie werden von globalen Schmerzen heimgesucht, die sie, wie ihre wirklichen und eingebildeten Krankheiten, nicht zur Ruhe kommen lassen. Thomas Mann lässt auf die grosse Gereiztheit das Schlusskapitel „Donnerschlag“ folgen, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Flachland, der auch die Hauptfigur Hans Castorp auf eines der europäischen Schlacht-felder ausspuckt. „Der Zauberberg“ bleibt bis heute „eine Sensibilitäts-schulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse“ (Frank Schirrmacher).
In einem Europa 2019, dessen Zerfallsprozess in vollem Gange ist, entwickelt die Regisseurin Karin Henkel ihre ganz eigene Lesart dieses komple-xen Stoffes. Mit „Elektra“ (2013), „Die zehn Gebote“ (2016) und „BEUTE FRAUEN KRIEG“ (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2018) schuf Henkel aufsehenerregende Theatererzählungen, die Narrationen, Bühnenräume und Zuschauerperspektiven in ungewohnte Spannungsverhältnisse setzten.
Karin Henkel, geboren 1970 in Köln, begann ihre Regiekarriere am Burgthea-ter in Wien. Es folgten Inszenierungen am Thalia Theater Hamburg, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, am Schauspielhaus Bochum, am Schauspiel Leipzig, am Schauspielhaus Zürich („Woyzeck“ 1999, „Das weite Land“ 2004), am Deutschen Theater Berlin sowie am Schauspielhaus Düssel-dorf. Zuletzt arbeitete sie u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Frankfurt, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspiel Köln. Bereits sechs Mal wurden ihre Inszenierungen zum Berliner Theater-treffen eingeladen.
Am Schauspielhaus Zürich waren in Karin Henkels Regie „Viel Lärm um nichts“ von William Shakespeare, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth, „Elektra“ nach den Tragödien von Hugo von Hof-mannsthal, Sophokles, Aischylos und Euripides und „Amphitryon und sein Doppelgänger“ nach Heinrich von Kleist (2014 zum Berliner Theatertreffen und zum 1. Schweizer Theatertreffen eingeladen) zu sehen. „Amphitryon und sein Doppelgänger“ wurde bei der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ zudem zur „Inszenierung des Jahres“ gewählt. In der Spielzeit 2015/16 führte sie in der Schiffbauhalle Regie bei „Die zehn Gebote“ nach nach dem Filmzyklus „Dekalog“ von Krzysztof Kieślowski und Krzysztof Pie-siewicz, 2016/17 im Pfauen bei „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow. Karin Henkels Inszenierung „BEUTE FRAUEN KRIEG“ aus der Spielzeit 2017/18 wurde 2018 zum 55. Berliner Theatertreffen sowie zum 5. Schweizer Theatertreffen eingeladen, zudem wurde ihr im selben Jahr auch der Theaterpreis Berlin verliehen.
Regie Karin Henkel
Bühne Thilo Reuter
Kostüme Adriana Braga Peretzki
Live-Musik The Dead Brothers (Kay Buchheim, Alain Croubalian, Matthias Lincke)
Video Kevin Graber und Ruth Stofer
Dramaturgie Viola Hasselberg
Licht Frank Bittermann
Mit: Christian Baumbach
Ludwig Boettger
Gottfried Breitfuss
Carolin Conrad
Fritz Fenne
Katrija Lehmann
Isabelle Menke
Michael Neuenschwander
Lena Schwarz
Friederike Wagner
Milian Zerzawy
Musiker Alain Croubalian
Musiker Kay Buchheim aka Digger Barnes
Musiker Matthias Lincke
Weitere Vorstellungen in der Schiffbau/Halle:
18./21./26./27./29./31. Mai, 19:00 Uhr
2./4. Juni, 19:00 Uhr
Mehr als Zuschauen zu „Die grosse Gereiztheit“
Inszenierungseinblick Bereits vor der Premiere haben Interessierte die Gelegenheit, die neue Inszenierung kennenzulernen.
16. April, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer, Eintritt frei
Theater im Gespräch zu „Die grosse Gereiztheit“ & „Die Toten“,
In einer moderierten Gesprächsrunde zu „Die grosse Gereiztheit“ & „Die To-ten“ tauschen Sie Beobachtungen mit anderen aus und vergleichen Inszenierungsansätze.
Leitung Petra Fischer, Dramaturgin
6. Juni, 19:00–20:30, Treffpunkt Schiffbau/Foyer, Eintritt frei
Zum Thema Europa findet am 14. Mai im Pfauen ein Zürcher Gespräch mit
Ulrike Guérot und Lukas Bärfuss statt.
Ulrike Guérots Idee einer europäischen Demokratie fordert das Denkmodell Europa heraus: Wo längst ein Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung eingeführt sind, fehlt eine europäische Rechtsprechung. Ihre kontroverse Vision, die zuletzt beim „European Balcony Project“ an verschiedenen Orten in ganz Europa ausgerufen wurde, diskutiert sie mit Lukas Bärfuss.
14. Mai, 20:30, Pfauen
Das Bild zeigt Thomas Mann