Kein Wunder, dass die Kinder, in die Wildnis geschickt und unter Ängsten dort eingeschlafen, eine Gegenwelt vor sich sehen – ein komplett essbares Haus, scheinbar für sie allein. Aber dieses Haus ist nicht zum Verzehr für sie gedacht, im Gegenteil: Hier sollen die Kinder selbst verspeist werden.
Engelbert Humperdinck und Adelheid Wette schufen in den frühen 1890er Jahren nicht nur die berühmteste aller Märchenopern, sondern auch eine präzise Darstellung sozialer Not. So arm, dass es an Essen fehlt? Solche Armut kennen wir seit Jahrzehnten nicht mehr, wir haben sie in andere Länder »ausgelagert«. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov sucht sie dort, wo wir sie vermuten und wohin unser Schuldgefühl sie projiziert: in Afrika. »Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht« verspricht das Libretto von Adelheid Wette. Aber wie können wir verhindern, dass das Lebkuchenhaus zum Schlachthaus wird? Und wen müssen wir dafür in den Ofen schieben?
Der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Kirill Serebrennikov, der in der Spielzeit 2015/16 mit gro-ßem Erfolg Salome an der Oper Stuttgart inszeniert hatte und in dieser Spielzeit Hänsel und Gretel als Neuproduktion herausbringen sollte, ist seit dem 23. August 2017 unter Hausarrest gestellt; zugleich wurde ihm ein Kommunikationsverbot auferlegt. Unter diesen Umständen kann er die Produktion Hänsel und Gretel derzeit nicht zur Premiere führen.
Die Oper Stuttgart wird daher in dem zur Verfügung stehenden Probenzeitraum eine szenische Präsentationsform entwickeln, die mit Materialien umgeht, die in den Vorarbeiten entstanden sind und von Kirill Serebrennikov für die Premiere am 22. Oktober 2017 als erste Etappe seines Hänsel und Gretel-Projektes freigegeben wurden. Dieses Material stammt aus einem abendfüllenden, im April dieses Jahres in Ruanda und Stuttgart gedrehten Spielfilm, sowie aus einer in Koproduktion mit dem SWR entstandenen Dokumentation dieser Dreharbeiten durch ein Team der Filmakademie Baden-Württemberg in der Regie von Hanna Fischer.
Die Arbeit mit diesem Material wird von dem gesamten Ensemble der Produktion mitgetragen und mitgestaltet: von den Sängerinnen und Sängern, den Musikerinnen und Musikern, den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern der Gewerke und der Bühnentechnik. Der Musikalische Leiter Georg Fritzsch, der Videokünstler Ilya Shagalov und die Dramaturgin Dr. Ann-Christine Mecke werden in Zusammen-arbeit mit der künstlerischen Leitung des Hauses einen außergewöhnlichen Musiktheaterabend gestalten. „Kirill Serebrennikovs kreativer Impuls arbeitet in jedem einzelnen von uns weiter“, sagt Opernintendant Jossi Wieler.
„An der Aufführung festzuhalten, ist ein starkes Signal, das die Landesregierung nachdrücklich unter-stützt“, betont Kunststaatssekretärin Petra Olschowski. „Kirill Serebrennikov und seine Arbeit in Stutt-gart stehen beispielhaft für die engen kulturellen Beziehungen Baden-Württembergs und Deutschlands zu Russland und für die Bedeutung eines offenen, freien Kulturaustauschs in dieser Welt. Das ist gerade heute wichtig, angesichts der Entwicklungen in Europa. Wenn wir zulassen, dass dieser Austausch zum Erliegen kommt, werden wir einander fremd. Was wir brauchen, ist aber mehr Verständnis für- und Kommunikation miteinander, nicht weniger. Und wir brauchen Kunst in Freiheit. Um die Freiheit der Kunst muss immer wieder aufs Neue gerungen werden.“
Hänsel und Gretel bleibt dabei ein Stück für die ganze Familie. Wir kündigen den Abend daher mit folgendem Titel an:
Engelbert Humperdinck
Hänsel und Gretel
Ein Märchen von Hoffnung und Not, erzählt von Kirill Serebrennikov
„Der Titel deutet an, dass an diesem Abend nicht nur das Märchen, sondern auch über unseren Erzäh-ler erzählt werden wird, der in seiner Erzählung unterbrochen wurde“, sagt Produktionsdramaturgin Dr. Ann-Christine Mecke. Humperdincks Musik wird dabei in ganzer Länge erklingen, gespielt vom Staatsorchester Stuttgart.
Die Oper Stuttgart widmet diese Produktion Kirill Serebrennikov, in der Hoffnung auf dessen baldige Freilassung. Im Zeitraum der Proben und Aufführungen von Hänsel und Gretel präsentieren die Staatstheater Stuttgart in einer Retrospektive bisherige Arbeiten des Theater-, Film-, Opern- und Ballettregisseurs Serebrennikov, und informieren in Vorträgen und Podiumsdiskussionen über die Schwierigkeiten, mit denen Kulturschaffende in Russland heute konfrontiert sind. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unterstützt dieses Programm.
Ein Märchen über Hoffnung und Not
erzählt von Kirill Serebrennikov
in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: Georg Fritzsch, Willem Wentzel,
Video: Ilya Shagalov,
Licht: Reinhard Traub,
Kinderchor: Christoph Heil,
Dramaturgie: Ann-Christine Mecke,
Produktionsteam des Films:
Regie: Kirill Serebrennikov,
Kamera: Denis Klebeev,
Kameraassistent: Giuri Dzhokhadze,
Casting Director Rwanda: Hope Azeda,
Regieassistent: Simon Rwema,
Aufnahmeleiter: Innocent Munyeshuri,
Schnitt: Ilya Shagalov,
Produzent: Márk Szilágyi
Vater: Michael Ebbecke, Simon Bailey, Mutter: Irmgard Vilsmaier, Catriona Smith, Hänsel: Diana Haller, Kora Pavelic, Gretel: Esther Dierkes, Josefin Feiler, Die Knusperhexe: Daniel Kluge, Torsten Hofmann, Sandmännchen / Taumännchen: Aoife Gibney, Mit: Kinderchor der Oper Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart, Darsteller im Film: , Gretel: Ariane Gatesi, Hänsel: David Niyomugabo, Vater: Isaie Karinda, Mutter: Chantal Kayizerwa, Sandmann: Jean Paul Nduwayezu, Taumännchen: Hope Azeda, Männlein im Wald: Celestin Nyagatare, Barfrau: Rose Murekatate, Musiker: Emanuel Habumuremyi
26.10.2017 19:00 Uhr
November 2017
04.11.2017 19:00 Uhr
Dezember 2017
02.12.2017 19:00 Uhr
13.12.2017 19:00 Uhr
16.12.2017 19:00 Uhr
26.12.2017 14:00 Uhr
26.12.2017 18:00 Uhr
Januar 2018
07.01.2018 Nachmittagsvorstellung
07.01.2018 Abendvorstellung
14.01.2018