Saint-Saëns erzählt die Handlung gleichzeitig als Konflikt zweier Völker sowie zweier Menschen. Und er entwirft eine zeitlose Geschichte, die zwischen inniger Liebessehnsucht und ekstatischem Bacchanal aufgespannt ist. Mit dem Protagonistenpaar wiederum gelangen ihm Prototypen des Opernrepertoires: Starke Figuren, changierend zwischen Liebe, Verrat und Tod.
Hierzulande ist er einer der großen Unbekannten der europäischen Musikgeschichte. Gewiss, jedes Kind kennt den Karneval der Tiere, und Konzertbesucher werden dann und wann das fünfte Klavierkonzert, das erste Cellokonzert, die Orgel-Symphonie hören. Und natürlich: die Oper Samson et Dalila. Doch mehr ist aus dem breiten OEuvre von Camille Saint-Saëns heute kaum noch im Repertoire. Aus dem einst unermüdlich Schreibenden ist ein Name geworden, den viele kennen, aber kaum mit mehr als einigen Schlagern verbinden.
Wer aber war Saint-Saëns? In Schlagworten: Er komponierte nicht nur (quer durch alle Genres), er schrieb und dichtete auch (etwa eine zu seinen Lebzeiten sehr erfolgreiche Gesellschaftskomödie), beschäftigte sich mit Astronomie und Biologie, theoretisierte über Musik in allen Erscheinungsformen, forschte über die Alte Musik wie über außereuropäische Kulturen, kommentierte, zeichnete und reflektierte. Das alles aber nicht nur auf einem Hobby-Niveau, sondern professionell und mit Ausdauer. Ein Universum an Gelehrsamkeit – dem (und dessen Musik) schon zu Lebzeiten in seiner Heimat zeitweise wenig Verständnis entgegengebracht wurde.
Ein Beispiel dieser schwierigen Situation zeigt seine – heute – zentrale Oper Samson et Dalila: Ausgehend von einem Libretto Voltaires (die ursprüngliche Musik zu dieser Oper ist verschollen) entwarf Saint-Saëns ein Werk, das aus der bekannten biblischen Geschichte nur einen Ausschnitt wählt: die Liebesgeschichte. Damit verschob sich der dramaturgische Schwerpunkt der ursprünglichen Handlung in Richtung eines Beziehungsdramas, an dessen Rändern sich Fragen zu Gesellschaft und Freiheit, Glaube und Berufung gruppieren. Interessiert hat den Komponisten auch hier, wie so oft, der einsame Raum rund um die Protagonisten – ein Thema, das er tief in seinem Herzen trug. Nicht umsonst kennt man Verse aus seiner Feder, die sein Innenleben offenbaren: „Einsamkeit ist es, dessen die leidende Seele bedarf …“. Und so sind Samson und Dalila nicht nur Liebende, sondern auch Einsame in sich bekriegenden Gesellschaften. Die Binnenspannung der Oper ergibt sich freilich aus der inneren Kräftekonstellation der Protagonisten: Ohne das – erwartete – zeitweilige Unterliegen Samsons ergäbe sich keine plausible Zuspitzung eines Konflikts. Doch biblisch hin oder her: Die Oper ist kein religiöses Werk an sich, auch wenn der Komponist ursprünglich an eine oratorienhafte Form gedacht hatte. Denn Saint-Saens, der sich intensiv mit Religion auseinandersetzte, nahm eine recht distanzierte Position zu Glaubensfragen ein, was wiederum nicht verwundert: war der Komponist doch an sich ein rationalistisch geprägter Denker, der selbst in den Augenblicken größer emotionaler Anspannung ironisch und kühl blieb.
Die Ironie brauchte er mitunter auch, denn inmitten seines disziplinierten Lebenslaufs musste er viele Niederlagen einstecken. Seine Erfolge suchte er zu dieser Zeit im Ausland, und es war mit Weimar auch das – keineswegs befreundete – Deutschland, in dem Samson et Dalila (unter Franz Liszts Leitung) 1877 zur Uraufführung gelangte. Trotz eines großen Erfolgs floss noch viel Wasser durch die Seine, bis auch Paris den Samson entdeckte: erst 15 Jahre nach der Uraufführung fand das Werk seinen Weg an die Pariser Opéra. Und das Werk brauchte sogar noch länger, um an der Wiener Hofoper zu erklingen: Erst 1907, gerade noch in der Direktion Gustav Mahlers, hörte man es hier zum ersten Mal: übrigens unter dem Dirigenten Bruno Walter. Nur knapp 50mal stand Samson et Dalila seither am Wiener Staatsopern-Spielplan: zuletzt vor fast 25 Jahren. Zeit also für eine Neuauflage!
Oliver Làng
DIRIGENT: Marco Armiliato
REGIE: Alexandra Liedtke
BÜHNENBILD: Raimund Orfeo Voigt
KOSTÜME: Su Bühler
CHOREOGRAPHIE: Lukas Gaudernak
Dalila: Elīna Garanča
Samson: Roberto Alagna
Oberpriester des Dagon: Carlos Álvarez
Abimélech: Sorin Coliban
Reprisen: 15., 18., 21., 15., 18. Mai 2018
Bild: Camille Saint-Saëns