Von einem Augenblick zum anderen rechtlos geworden, sieht er sich verurteilenden Blicken, abschätzigem Getuschel und öffentlicher Hetze ausgesetzt. Orientierungslos, gedemütigt und verzweifelt um Haltung ringend, durchquert Silbermann schlaflos mit der deutschen Reichsbahn seine Heimat, in welcher er über Nacht zum Gejagten geworden ist. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert.
So höllisch finster der zeithistorische Hintergrund ist: Otto Silbermann hebt sich nicht als Lichtgestalt von ihm ab. Er ist ein widersprüchlicher und eigenwilliger Charakter, kein Held, sondern ein Mensch, dessen Handeln nur das eine nachvollziehbare Ziel kennt: überleben. Wie nicht wenige patriotisch gesinnte deutsche Juden damals ist er in Momenten der existenziellen Angst von der Überzeugung getrieben, nur die anderen Juden seien schuld an seiner Not: „Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann. Dadurch kommen wir alle in Gefahr. Euch anderen habe ich es überhaupt zu verdanken. Wenn ihr nicht wärt, dann könnte ich in Frieden leben. Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Ich unterscheide mich durch nichts von anderen Menschen, aber vielleicht seid ihr wirklich anders und ich gehöre nicht zu euch. Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich nicht verfol-gen. Dann könnte ich ein normaler Bürger bleiben. Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet.“
Als Silbermanns Aktentasche mit 30’000 Reichsmark gestohlen wird und er somit sein letztes Hab und Gut verliert, fasst er einen wahnsinnigen Entschluss.
Fast 80 Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung erscheint „The Man Who Took Trains“ des deutsch-jüdischen Autors Ulrich Alexander Boschwitz 2018 auf Deutsch auf der Grundlage eines Typoskripts – und wird zum Bestseller. Der 1915 in Berlin geborene Kaufmannssohn Boschwitz hat den Roman im Alter von 23 Jahren, wenige Jahre vor sei-nem Tod, unter dem Eindruck der Novemberpogrome wie im Fieberrausch geschrieben. Er zeigt eindrücklich und verstörend, was es für einen Menschen bedeutet, alles zu verlieren und auf der Flucht zu sein. Ma-non Pfrunder inszeniert den nun neu entdeckten Roman „Der Reisende“ und setzt seinen lakonischen, berührenden und spannenden Text zeitgenössisch in Szene.
Manon Pfrunder, geboren 1988, studierte Schauspiel an der EFAS in Zürich. Während dieser Zeit machte sie auch erste Erfahrungen in der Regie und inszenierte in der freien Theaterszene „2 nach Orff“ von Marcus Everding. Danach arbeitete sie in Berlin am Heimathafen Neukölln und an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz als Gastregieassistentin. Seit 2015 ist Manon Pfrunder Regieassistentin am Schauspielhaus Zürich. 2018 zeigte sie eine Adaption von „Abendlicht" nach der Erzählung von Stephan Hermlin.
DER REISENDE
Regie: Manon Pfrunder
Regie Manon Pfrunder
Bühne Sandra Antille
Kostüme Iva Ivanova
Bearbeitung Armin Kerber in Zusammenarbeit mit Manon Pfrunder
Video Timo Raddatz
Sounddesign & Musik Martin Hofstetter
Dramaturgie Benjamin Große
Licht Thomas Adam
Mit: Klaus Brömmelmeier Vera Flück Matthias Neukirch Nicolas Batthyany
Weitere Vorstellungen in der Pfauen/Kammer
25./27./31.Mai, jeweils 19:30 Uhr 2./10./14./15./17./19./20./22./25./27. Juni, jeweils 19:30 Uhr
Das Bild zeigt Ulrich Alexander Boschwitz