Der Kontrast zur letzten SPIELART-Ausgabe könnte kaum größer sein. Dominierte 2021 noch der Pandemie-Stillstand, ist nun alles mehr denn je in Bewegung. Der Münchner Flughafen erzielte letzten Sommer Rekordzahlen – und kollabierte gleich unter dem Andrang. Ein „Kofferchaos“ brach aus und sollte eilends von extra dafür eingeflogenen Aushilfen beseitigt werden. Die hektische Suche nach (Fach-)Kräften hört seitdem nicht auf: Deutsche Politiker*innen gehen weltweit in ihren Wunschländern auf Abwerbetour, vorgeblich in beidseitigem Interesse. Mit anderen Worten, eine Fortsetzung der Abwanderung von Fachkräften aus ärmeren Ländern in den Dienst des Mutterlandes. Noch nie seit Beginn der Zählung waren so viele Menschen auf der Flucht wie im Moment, mehr als 108 Millionen nennt das UNHCR, 1.166 starben allein im ersten Halbjahr 2023 beim Versuch, die Festung Europa zu erreichen, im Mittelmeer – in immer wieder obszöner Nähe zu Urlaubenden. Zur Flucht gehört aber auch die Verdammung zur Untätigkeit, festgehalten in wirtschaftlich und kulturell unproduktiven Flüchtlingslagern auf dem Weg oder später in der neuen Heimat Deutschland, beim Warten auf Aufenthalts- oder Arbeitspapiere. Und aus der Perspektive eines behinderten Menschen trägt Chiara Bersani einen weiteren Aspekt bei: „Als behindertes Kind war ich oft ruhiggestellt, unbeweglich. Man ließ mich für lange Zeit an einem Ort zurück, also prägte ich mir dort jeden einzelnen Zentimeter ein. Ich habe mich auf vielen Wegen nicht zurechtgefunden, allerdings wusste ich sehr genau, an welchen Stellen ich Ruhe und Entspannung finden würde.“ Wie hängen Stillstand, erzwungene oder erwünschte Mobilität zusammen?
Auf vielfältige Weise machen Künstler*innen des Festivals diese Realität zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten. Mit Foto-Buch und Soundfile berichtet Dmytro Levytskyi über die Auswirkung des russischen Überfalls auf die Ukraine anhand einer bestimmten Straße in Kiew. Pankaj Tiwari hinterfragt die Privilegien des Fliegens, Thomas Bellinck und Said Reza Adib die Praxis der Abnahme von Fingerabdrücken.
Angesichts der wieder aktuellen Spannungen zwischen den USA und China im pazifischen Raum setzt sich das künstlerische und Diskursprogramm WHEN MEMORIES MEET mit der Denkfigur des „Kalten Krieges“ und deren Auswirkungen auf die Länder Ost-/Südost- und Südasiens auseinander. Lokale Konflikte wurden seinerzeit im Lichte des Kampfes zwischen den USA und der Sowjetunion gesehen. Dies führte zu Erzählungen, in denen einzelne Länder bei der Gestaltung ihrer eigenen Geschichte fast unsichtbar geworden sind. Damit einher geht die Frage, wie historische Ereignisse in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich erinnert werden und warum? „Indem SPIELART künstlerische Praktiken in ost-, südost- und südasiatischen Ländern in den Mittelpunkt stellt, will WHEN MEMORIES MEET Möglichkeiten für Dialoge bieten, die diese Hinterlassenschaften kontextübergreifend neu untersuchen. Auf diese Weise unsere Perspektive auf gesellschaftliche Verfahren und Erinnerungsarbeit außerhalb Europas neu justierend, will das Programm Begegnungen und Austausch initiieren, die die Idee einer festen Identität und absolut getrennter Geschichten in Frage stellen, um unterschiedliche Vorstellungen von der Welt, in der wir leben, anzuregen.“ (Betty Yi-Chun Chen)
Dem SPIELART-Publikum mittlerweile bekannt ist das Wiener Kollektiv God’s Entertainment, das ein Großprojekt für die Stadt plant: Während des gesamten Festivalzeitraums wird das aufblasbare GGGNHM – guggenheim in münchen?, ein Abbild des legendären New Yorker Museums, auf dem Max-Joseph-Platz geöffnet sein. Die Ausstellung DEUTSCHKURS oder GOETHE IN 15 TAGEN sowie ein interdisziplinäres Programm, das gemeinsam mit zahlreichen Münchner Gruppen entwickelt wurde, beschäftigen sich mit Sprache als Machtfaktor, Recht(s)schreibung und (Des)integration.
NOTHING TO DECLARE am letzten Festivalwochenende im Kreativquartier an der Dachauerstraße ist ein „Testgelände“, auf dem internationale und lokale Künstler*innen sich begegnen. Drei Tage lang transformieren Künstler*innen den Ort in ein Saatbeet, auf dem erstmalige Theatermacher*innen, Bildende und Performance-Künstler*innen die Ergebnisse ihrer Recherchen ausstellen, entweder als erste Schritte, als kurzes Innehalten, oder als mögliche Endstationen. „Dass die Zukunft immer ungewiss ist, ist kein Grund, sich ihr nicht zuzuwenden und unsere besten Ideen anzubieten, in der Hoffnung, dass sie sie besser machen. Unsere hohe Neigung zum Scheitern wird durch die kleine Menge an seltener Einsicht aufgewogen, als ein Trost“. (Boyzie Cekwana)
Das diesjährige Festivalprogramm beschäftigt sich also mitnichten nur mit unseren gegenwärtigen Krisen, sondern auch und vor allem mit möglichen Strategien, diese zu bewältigen – über den Kopf, den Körper, die Begegnung. Julian Warner ruft mit Wrestler*innen zum Klassenkampf auf, die kongolesisch-schweizerische GROUP50:50 setzt sich mit ihrem fulminanten Musiktheater aktiv für die Restitution menschlicher Skelette ein, um so die Wunden des Kolonialismus zu heilen, Igor Shugaleev und Gosia Wdowik beschäftigt die Frage, wie man das eigene individuelle Leben und den politischen Kampf zusammenbringt. Es gibt neue Lovesongs, Puppen(spiel), posthumanes und afrofuturistisches Gedankengut. Mit Maria Metsalu oder Teresa Vittucci zeigt SPIELART „leidenschaftliche Theatermacher*innen, die uns daran erinnern, dass performative Praxis mehr ist als nur Geschichtenerzählen, dass sie sich nicht in einfache Definitionen pressen lässt und manchmal einfach nur Magie sucht, eine bestimmte Schwingung, eine intensive Präsenz, die uns mit Ehrfurcht vor dieser Welt und der ganzen Wildnis in uns selbst erfüllt.“ (Eva Neklyaeva)
Mit Foto-Buch und Soundfile berichtet Dmytro Levytskyi von den Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine, Pankaj Tiwari hinterfragt die Privilegien des Fliegens, Thomas Bellinck und Said Reza Adib die Praxis der Abnahme von Fingerabdrücken.
Doch es soll nicht nur um die gegenwärtigen Krisen gehen, sondern vor allem um den Umgang mit diesen:
Julian Warner ruft mit Wrestler*innen zum Klassenkampf auf, die kongolesisch-schweizerische GROUP50:50 setzt sich aktiv für die Restitution menschlicher Skelette ein, um die Wunden des Kolonialismus zu heilen. Igor Shugaleev und Gosia Wdowik beschäftigt die Frage, wie man das eigene Leben und den politischen Kampf zusammenbringen kann. Es gibt neue Lovesongs, ein chinesisch-amerikanisches Ping-Pong-Match mit zwei Klavieren und ein Guggenheim vor der Bayerischen Staatsoper.
Für einen kurzen Moment und inmitten vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen will SPIELART ein Ort der Begegnung sein, mit zahlreichen Veranstaltungen bei freiem Eintritt und im Stadtraum, Diskursen und Gesprächen, Partys, dem Festivalzentrum sowie einer armenisch-deutschen „Bisetka“ im Kreativquartier.
Alle Infos www.spielart.org