Da erstaunt es, dass »Fidelio« in Wissenschaft und Praxis zugleich als ambivalentes Werk gilt. Das Libretto hat sprachliche Schwächen, die Dialoge sind qualitativ fragwürdig. Und doch faszinieren Beethovens Musik und die behandelten Themen, der Ruf nach Befreiung von Gewalt und Unterdrückung, die Hymne an die Treue, seit über 200 Jahren das Publikum. Bei der Uraufführung der ersten Version 1805 war das nicht abzusehen. Unter dem Titel »Leonore« ist Beethovens berühmtes Sorgenkind noch nicht reif für die eigene Zeit. Mehrmals arbeitet der Komponist seine Oper um, bevor 1814 die letzte Fassung als »Fidelio« zur Aufführung kommt.
In Ulm begibt sich der international renommierte Regisseur Dietrich W. Hilsdorf mit seinem langjährigen Bühnenbildner Dieter Richter, der Kostümbildnerin Bettina Munzer, GMD Timo Handschuh und dem Ulmer Ensemble auf Spurensuche. Er begreift Beethovens Oper als Werk des Umbruchs von der Wiener Klassik hinein ins Biedermeier, genauer: in den Vormärz. Die oft gescholtene Heterogenität des »Fidelio« – der Beginn als Singspiel, die Wandlung zur dramatischen Oper bis hin zur oratorienhaften Größe des Finales – ist für Hilsdorf in Wahrheit die Stärke des Werks. Die Verkleidung der Leonore als Mann führt zu Liebeswirren, die tatsächlich shakespearsche Größe haben. Tragik und Komik liegen im »Fidelio« eng beieinander – das erkennt man vor allen Dingen, wenn man auf die Urfassung »Leonore« schaut, die wesentlich mutiger mit diesem Spannungsfeld umzugehen versteht.
Es gibt viele gute Gründe, »Fidelio« zu spielen, aber ebenso viele Gründe, Aspekte und Teile der »Leonore« von 1805 nicht zu vergessen. Daher wird die Ulmer »Fidelio«-Fassung, die ohne die hölzernen Dialoge auskommt, um ein paar wenige Stellen der Ur-»Leonore« erweitert. Bekanntes trifft auf selten Gehörtes, das Ohren und Sinn für die Komplexität von Beethovens Oper öffnet.
Mit »Fidelio« kehrt Dietrich W. Hilsdorf nach über dreißig Jahren zurück nach Ulm, wo er in den 1980er-Jahren die Theaterlandschaft mit seinen Aufsehen erregenden Inszenierungen ordentlich aufgemischt hat, bevor das internationale Parkett auf ihn aufmerksam wurde.
In der fordernden Titelpartie alternieren die südafrikanische Sopranistin Erica Eloff, die in diesem Jahr bei den Händel-Festspielen in Göttingen für Furore gesorgt hat, und die dem Ulmer Publikum seit ihrer viel gelobten »Senta« im »Fliegenden Holländer« wohlbekannte Susanne Serfling. Die übrigen Partien können aus dem hauseigenen Ensemble besetzt werden: Markus Francke als Florestan, Dae-Hee Shin als Don Pizarro, Erik Rousi als Rocco, Maryna Zubko und Maria Rosendorfsky alternierend als Marzelline, Luke Sinclair als Jaquino und Martin Gäbler als Don Fernando. Es singen der Opern- und Extrachor des Theaters Ulm und am Pult des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm steht GMD Timo Handschuh.
Im Anschluss an die Premiere findet im Foyer die Vernissage zur Ausstellung »Total Polygonal - Fotografische Bestandsaufnahme am Gebäude des Theaters Ulm« der renommierten Fotografin Kerstin Schomburg statt.
Das Bild zeigt Ludwig van Beethoven