Zu bedeutend seine Leistungen in der kurzen Zeit seiner tänzerischen Laufbahn, zu wichtig seine Arbeiten als Choreograph und zu schillernd seine Position als zentrale Gestalt der „ballets russes“, jener Tanztruppe, die unter ihrem Impresario Sergej Diaghilew in den 1910er Jahren die Tanzwelt revolutionierte und weltweit für Begeisterung sorgte. Seine Ausstrahlung und legendäre Sprungkraft (Zuschauer berichten von seiner Fähigkeit, schwerelos wirkende Sprünge gleichsam in der Luft anzuhalten und dann in einer lautlosen Landung zu beenden) machten ihn als Tänzer bereits zu Lebzeiten zur Legende, die Uraufführung von Strawinskys Sacre du Printemps in Nijinskys Choreographie wurde zu einem der berühmtesten Theaterskandale des noch jungen 20. Jahrhunderts. Nijinskys glanzvolle Karriere dauerte nur wenige Jahre, nach seiner Hochzeit mit einer Verehrerin verstieß ihn sein Entdecker, Förderer und Liebhaber Diaghilew und veranlasste damit Nijinskys tragischen und langsamen Abstieg vom Gipfel des Weltruhms. Bereits mit Mitte 20 machten sich immer wieder psychische Krisen bei ihm bemerkbar, bevor er mit 29 Jahren nach einem Nervenzusammenbruch in psychiatrische Behandlung kam und sein Leben fortan in Heilanstalten verbrachte – Diagnose: Schizophrenie.
Als Dokument seiner beginnenden Erkrankung gilt Nijinskys Tagebuch von 1919, das er rund um seinen letzten Auftritt während eines Aufenthaltes im schweizerischen St. Moritz geschrieben hat. Kurz darauf wurde er in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Bereits zu Nijinskys Lebzeiten von seiner Ehefrau herausgegeben, konnten die Aufzeichnungen erst nach ihrem Tod in einer unzensierten Originalfassung zugänglich gemacht werden.
Der deutsche Komponist Detlev Glanert (*1960) – einer der am häufigsten aufgeführten Opernkomponisten der Gegenwart, Schüler u. a. von Hans Werner Henze - hat sich dieses Textes angenommen und ihn zur Grundlage eines außergewöhnlichen Musiktheaterwerks gemacht. Insgesamt 6 Darsteller aus den Sparten Oper, Schauspiel und Tanz, jeweils männlich und weiblich besetzt, sind gemeinsam Nijinsky, bilden gemeinsam Nijinskys innere Stimme.
Den Darstellern verlangt das Werk Ungewöhnliches ab, sie haben auch Aufgabenbereiche, die übliche Normen ignorieren: Während Sänger tanzen und Tänzer auch sprechen, müssen die Schauspieler singen. Als Choreographin und Regisseurin mit viel Erfahrung in zeitgenössischem Musiktheater steht ihnen mit Rosamund Gilmore eine Regisseurin zur Seite, der es wichtig ist, Glanerts Konstrukt des Wahnsinns als Werk unmittelbar sinnlichen Musiktheaters wahrnehmbar zu machen. Auch Ingo Ingensand wird sich dieser Aufgabe am Pult des Bruckner Orchesters stellen.
Die Bregenzer Festspiele ehren den Komponisten Detlev Glanert dieses Jahr mit einem Komponisten-Schwerpunkt. Bevor das Landestheater mit Nijinskys Tagebuch im Sommer in Bregenz gastieren wird, steht mit dieser Produktion die Österreichische Erstaufführung des Werkes in den Kammerspielen des Landestheaters an.
Detlev Glanert über Nijinskys Tagebuch:
Der Text für das Werk Nijinskys Tagebuch besteht aus Auszügen dem vom 19. Januar 1919 bis zum 4. März 1919 geführten Tagebüchern von Waslaw Nijinsky, die er nach seinem letzten öffentlichen Auftreten in St. Moritz und vor seiner Einlieferung in eine Heilanstalt verfasste.
Die ausgewählten Textteile repräsentieren alle für diese Tagebücher typischen Themen und stilistischen Merkmale, wobei der Schreibstil Nijinskys unter dem Einfluss der beginnenden Schizophrenie vollkommen gewahrt bleibt. Einige wenige Textabschnitte wurden umgestellt, einige sehr wenige Sätze unbedeutend gekürzt, aber die durchgehende Chronologie als Grundaufbau des zu vertonenden Textes beibehalten.
Neben Berichten aus dem Alltag stehen dort Erinnerungen, Zukunftsvisionen, Gedichte, Wortspielereien und der Zerfall der Sprache, neben konkreten und banalen Erlebnissen finden sich Metaphysisches und Naives. Das Faszinierende dieser Tagebücher ist ihr Protokollcharakter der Schizophrenie, und als gleichzeitiger Kommentar dazu schon im Augenblick der Niederschrift.
Der Text wird in der Komposition nicht individualisiert, sondern auf sechs Darsteller verteilt, die alle Nijinsky, bzw. sein sprechendes Ich repräsentieren; dabei kommt es zu wachsenden Überlagerungen und zur kompositorischen Nachbildung der Denkschleifen und –spiralen, die für die Tagebücher so charakteristisch sind.
Der Heterogenität des Darzustellenden und des Textes entspricht die instrumentale Besetzung: Barock-, übliche und moderne Instrumente, die auch für die verschiedenen Zeitebenen stehen, bilden einen Klangkörper, der die Freiräume des Unsagbaren, Unsäglichen und Unnennbaren auslotet, für Melodramatisches, Durchkomponiertes, Rezitativisches, für Tanz, Sprache, Gesang und Stille.
Aus: Vorwort von Detlev Glanert zu Nijinskys Tagebuch, 2008
Texteinrichtung von Carolyn Sittig nach den Tagebüchern von Waslaw Nijinsky in der deutschen Übersetzung von Alfred Frank
Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen
Leitungsteam
Musikalische Leitung Ingo Ingensand
Inszenierung und Choreographie Rosamund Gilmore
Bühne und Kostüme Nicola Reichert
Dramaturgie Julia Zirkler
Besetzung
Sängerin (Sopran) Belinda Loukota
Sänger (Bariton) Martin Achrainer
Schauspielerin Barbara Novotny
Schauspieler Karl M. Sibelius
Tänzerin Ilja van den Bosch
Tänzer Daniel Morales Pérez
Bruckner Orchester Linz
Weitere Termine 13. und 26. April; 21. Mai 2012 jeweils 19.30 Uhr