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SZENEN OHNE ILLUSIONEN -- "Tosca" von Giacomo Puccini in der Staatsoper Stuttgart

14. April 2024

Kann Kunst unsere Wirklichkeit beeinflussen? Diese Frage steht als zentrales Thema im Zentrum der Inszenierung von Willy Decker, dessen Figuren sich in Puccinis "Tosca" in einem schwarzen Kasten befinden. Die Bühne von Wolfgang Gussmann ist hier weitgehend fragmentarisch. Und die Kostüme von Wolfgang Gussmann passen sich durchaus der Zeit um 1800 an. Die Sängerin Floria Tosca lebt ein Leben für die Kunst. Damit glaubt sie alle politischen und gesellschaftlichen Probleme überwinden zu können, was Willy Decker in seiner Inszenierung ohne Illusionen herausstellt.

Copyright: Martin Sigmund

Ihr Geliebter, der Maler Mario Cavaradossi, sympathisiert mit den demokratischen Kräften. Dagegen geht die Geheimpolizei unter Baron Scarpia mit brutaler Gewalt vor. Als der Gefangene Cesare Angelotti aus dem Staatsgefängnis flieht und bei Cavaradossi Unterschlupf sucht, nutzt das Scarpia hinterlistig aus. Der Polizeichef beginnt ein riskantes Spiel mit der Eifersucht Toscas. Nach der Folterung ihres Geliebten Cavaradossi tötet sie Scarpia im Affekt. Trotzdem kann sie seinen Intrigen nicht entkommen. Cavaradossi wird bei einer angeblichen Scheinhinrichtung tatsächlich erschossen und Tosca entkommt ihren polizeilichen Verfolgern nur durch einen Todessprung von der Engelsburg.  

In Willy Deckers packender Inszenierung kann die Titelfigur zuletzt als einzige diesem verhängnisvollen Kasten entkommen. Decker charakterisiert Tosca und Cavaradossi als leidenschaftliche Künstler, die an der grausamen Realität scheitern. Der Trugschluss von Tosca und Cavaradossi besteht nun darin, dass beide glauben, mit dieser Realität einen Handel eingehen zu können. Zuletzt werden sie brutal aus jenem Nest aufgescheucht, aus dem sie sich zurückzuziehen glauben. Im Augenblick des Mordes an Scarpia flüchtet Toscas Seele auf eine  innere Bühne, was man bei Willy Deckers  Inszenierung deutlich spürt. Im dritten Akt grenzt ihre Verkennung der Realität an Wahnsinn - und Cavaradossi kommt erst am Anfang des dritten Aktes zu sich. Aus diesen scheinbaren Gegensätzen entwickelt Willy Deckers Inszenierung ihre elektrisierende Spannung, die bis zum Schluss nicht nachlässt.

Musikalisch kann diese Aufführung in vielen Bereichen punkten. Unter der präzisen Leitung von Markus Poschner musiziert das Staatsorchester Stuttgart mit leidenschaftlicher Emphase und nie nachlassender innerer Spannungskraft. Die lyrische Sphäre wird hier ganz bewusst verlassen, und Puccini betritt deutlich den Bereich der Musiktragödie, was Poschner mit raschen und fiebernden Tempi unterstreicht. Das berückende Melos der Liebesgesänge kommt vor allem in den geradezu hymnischen Duetten von Ewa Vesin als Floria Tosca und Atalla Ayan als Mario Cavaradossi nicht zu kurz. Toscas Arie "Nur der Schönheit weiht' ich mein Leben" ("Vissi d'arte") wird von Ewa Vesin sehr filigran dargeboten. Cavaradossis bewegende Arie "Und es blitzen die Sterne" im dritten Akt gewinnt immer mehr an Größe und klangfarblichem Reichtum. Der Scarpia von Gerardo Bullon besitzt durchaus dämonische Elemente, die sich immer mehr zuspitzen. Sein Bariton hat allerdings eher eine helle Färbung, was dem bedrohlichen und aus drei unzusammenhängenden Akkorden bestehenden Tonsymbol keinen Abbruch tut. Überzeugend ist ferner der leuchtkräftige Cesare Angelotti von Jasper Leever. In weiteren Rollen gefallen Andrew Bogard als Mesner, Heinz Göhrig als Polizeiagent Spoletta, Sebastian Bollacher als Gendarm Sciarrone, Ulrich Frisch als Schließer und Alissa Kruglyakova als Hirt.

Die Erschießungsszene gewinnt bei dieser Aufführung eine packende Schlagkraft. Der Realismus verschiebt sich ins Symbolische. Komische Elemente wie die Szene mit dem hinkenden Mesner rücken dagegen eher in den Hintergrund. Puccinis ausgeprägte Leitmotivtechnik wird von Markus Poschner mit dem Staatsorchester Stuttgart sorgfältig herausgearbeitet. Die 45 verschiedenen Themen und Motive zeigen hinsichtlich Harmonik, Rhythmik und Klangfarbe einen erstaunlichen Abwechslungsreichtum. "Scarpia-Motiv" und "Liebesthema" besitzen reizvolle dynamische Kontraste. Dieses geheimnisvolle "Scarpia-Motiv" erscheint zunächst zwischen Angelotti und Cavaradossi und später, als Scarpia die Kirche betritt. Angelotti wird durch vier verschiedene Motive charakterisiert, was Markus Poschner mit dem Staatsorchester ebenfalls sehr überzeugend betont. Angst und Schrecken des gehetzten Flüchtlings zeigen hier immer mehr Ausdruckskraft. Geballte Akkorde und drängende Synkopen sowie schweifende Chromatik lassen eine ungewöhnliche harmonische Unruhe erkennen.

Das "Suchmotiv" blitzt bedeutungsvoll auf, als Cavaradossi seine Villa als Unterschlupf zur Verfügung stellt. Das "Schreckensmotiv" erklingt fahl, als Scarpia den Befehl gibt, den bereits toten Angelotti aufzuhängen. Als Scarpia im zweiten Akt sein Leben aushaucht, wird die Dynamik tatsächlich auf das äusserste Piano reduziert. Cavaradossis Hinweis auf den Brunnen in seinem Garten als Versteck zeigt sich in Holzbläsern und Celesta als dahinplätschernder Quell. Im Orchestertutti erscheint dieses Motiv dann in der Nähe der Atmosphäre Scarpias. Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Bernhard Moncado)  hat an diesem Abend beim Te Deum einen großen Autritt. Auch der Kinderchor kann überzeugen.

Diese Inszenierung hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Am Ende großer Jubel für alle Beteiligten.
 

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