
Trotz der Reduzierung werden auch hier zwischenmenschliche Beziehungen und erotische Spannungen sichtbar. Machtkämpfe, Verletzlichkeit und Zärtlichkeit gehen in suggestiver Weise ineinander über. Der mystische Zauber des Adagio-Satzes wird hier tänzerisch tatsächlich als heiliger Tempel beschworen. Sphärenhaftes Himmelblau dominiert. Das fast religiöse Gefühl des erhabenen Melos kommt nicht zu kurz. Zwei Klangebenen und zwei Welten des Gefühls ergänzen sich gegenseitig. Dieses Adagio in fis-Moll entfaltet tatsächlich einen hypnotischen Zauber, der bis zur Coda anhält. Olga Khoziainova spielt das Solo-Piano einfühlsam. Und die Tänzer Anna Osadcenko, David Moore, Miriam Kacerova, Fabio Adorisio, Elisa Badenes und Jason Reilly beschwören die mythische Aura eindringlich.
Ein ausdrucksstarker Pas de deux beherrscht "Two Pieces For Het" mit der subtilen Musik von Erkii-Sven Tüür ("Illusion") und Arvo Pärt ("Psalom"). Da spürt man auch die elektrisierende innere Bewegungskraft der beiden Tänzer Mackenzie Brown und Marti Paixa. Klare Linien herrschen trotzdem vor, was typisch für Hans van Manen ist. Bühne und Kostüme von Keso Dekker lassen Tanz und Musik ganz zusammenwachsen. Die Choreografie zu "Trois Gnossiennes" von Erik Satie besitzt ebenfalls einen fast magisch wirkenden Pas de deux, der den Tänzern aber auch viel Freiraum lässt. Der Zauber arabisierender Melodik blitzt tänzerisch überaus leuchtkräftig hervor. Die Bühne von Jean-Paul Vroom und die Kostüme von Joop Stokvis schaffen unendliche Weiten, die auch das einfühlsame Solo-Piano von Chie Kobayashi wirkungsvoll einfängt. Die Tänzer Elisa Badenes, Friedemann Vogel, Anton Tcherny, Carlos Strasser und James Platts bilden eine magische Einheit.
Bei der grandiosen Choreografie zu Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 in h-Moll für Violine solo BWV 1002 tanzen die Tänzer in schnellen Sprüngen rasant um die Wette! Das wirkt in den Kostümen von Keso Dekker alles atemlos und ungeheuer mitreissend. Die drei hochbegabten Tänzer Henrik Erikson, Fabio Adorisio und Matteo Miccini inspirieren sich gegenseitig. Bei der Corrente dominiert Einheitlichkeit und Geläufigkeit gleichermaßen in einer auf- und absteigenden Achtel-Bewegung.
Zuletzt begeistert die hochkonzentrierte Choreografie zu Benjamin Brittens "Varations on a Theme of Frank Bridge" op. 10 mit Bühne und Kostümen von Keso Dekker. Paare und Körperlinien haben eine skulpturale Note, sie erhalten einen schwebenden Zustand. Lange Linien herrschen auch hier vor. Einflüsse von Gustav Mahler und hohes technisches Können setzt die Kompanie facettenreich um. Die zehn Variationen mit ihrem idyllischen Thema werden immer wieder in raffinierter Weise verfremdet und abgewandelt. Italienische Arie, Wiener Walzer, Trauermarsch und Perpetuum mobile ergänzen sich gegenseitig. Vor allem der unbeschreibliche Zauber der Fuge erfährt durch das Stuttgarter Ballett eine krönende Virtuosität. Die Tänzer Rocio Aleman, Marti Paixa, Agnes Su, Adhonay Soares da Silva, Vittoria Girelli, Mizuki Amemiya, Alicia Torronteras, Martino Semenzato, Christopher Kunzelmann und Satchel Tanner berühren einen Kosmos zwischen Himmel und Erde. Bewegliche Eleganz und Glanz stehen überall im Mittelpunkt. Das Staatsorchester
Stuttgart unter der kompetenten Leitung von Wolfgang Heinz begleitet die Kompanie in ausgezeichneter Weise. Zuletzt wurde Hans van Manen auf der Bühne für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ovationen, "Bravo"-Rufe und viele Blumen!