
Anna Karenina agiert als stolze Frau zwischen zwei Männern, die an dieser komplizierten Situation schließlich zerbricht und Selbstmord begeht. Interessant ist, was John Neumeier über Anna Kareninas Träume sagt, die bei seiner suggestiven Choreographie eine große Rolle spielen. Sie habe verschiedene Träume, deren Motiv den ganzen Roman beherrschen würden. Und dies spürt man auch sehr stark bei der Inszenierung, wo der Spitzenpolitiker Karenin (fabelhaft verkörpert von David Moore) gleich zu Beginn von einer aufgeheizten Menschenmenge im Blitzlichtgewitter frenetisch gefeiert wird. Es sind sehr dichte Bilder, die man nicht vergisst. Diese Träume werden nämlich von einem "Muschik", einem vom Land stammenden Arbeiter, beherrscht. Ein Muschik steigt auch aus dem Zug, als Anna in Moskau ankommt. Und als ein Muschik getötet wird, sieht sie das als schlechtes Zeichen an. Anna träumt immer wieder von einem Muschik, der etwas mit Eisen zu tun hat, der auf Eisen klopft - und sie nie beachtet. Diese Szene wird tänzerisch in überaus suggestiver Weuse umgesetzt. Jason Reilly als Muschik begegnet Miriam Kacerova als Anna Karenina zusammen mit sieben Regimentsathleten am Bahnhof in Moskau. Man sieht hier visuelle Variationen, denn Wronski (Marti Paixa) hat den gleichen Traum.
Wolke und Mond am Horizont spielen ebenfalls eine starke Rolle bei diesen Wahrnehmungen des Unterbewusstseins. Es ist ein bewegendes Spiel zwischen Licht und Schatten, Fiktion und Realität. Die Frage bleibt dann auch, ob dieser "Muschik" für Wronski oder für Karenin steht. Das Bühnenbild erfährt in der Mitarbeit von Heinrich Tröger sowie Video und Grafik von Kiran West zahlreiche Verwandlungen, die sich tief einprägen. Albert Kriemler hat eindringliche Kostüme für Anna Karenina geschaffen ("Anna Karenina trägt A-K-R-I-S"). Da gibt es die sportlichen Szenen mit der Mannschaft beim Lacrosse-Spiel, die ganz im Gegensatz zu den intimen Sequenzen mit Anna und Karenin zu Hause stehen. Der Traum Lewins von Kitty mit Matteo Miccini wirkt wie ein überirdisches Märchen. Später steigert sich dann Annas Leidenschaft für Wronski zu einer Obsession. Auch Karenins Einsamkeit tritt grell hervor.
Das Ehedrama nimmt seinen Lauf. Bei der politischen Kundgebung zu Beginn erklingt Tschaikowskys Dänische Ouvertüre in harmonischer Vielschichtigkeit, die von der Tanzkompanie einfallsreich umgesetzt wird. Dazu steht in starkem Kontrast etwa die Filmmusik "Story of an Unknown Actor" von Alfred Schnittke mit der Verbindung von neuen Klangmitteln und traditionellen Elementen. Hinzu kommt Cat Stevens mit Songs wie "Moonshadow", die von Peter Tschaikowskys erster Suite in reizvoll-graziöser Weise umrahmt wird. Es erklingt auch das großartige Motiv aus Tschaikowskys "Manfred"-Sinfonie, als die dem Tode nahe Anna verzweifelt versucht, Wronski mit ihrem Mann zu versöhnen. Als sich die Beziehung Wronskis zu Anna zunehmend verschlechtert, hört man die berühmte "Brief"-Szene aus Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin". Das geheimnisvolle Drängen der Empfindung und die subtile Verbindung mit Tatjanas Liebesmotiv werden hier tänzerisch äusserst wirkungsvoll umgesetzt. Dieses Drama des Herzens überträgt sich in ergreifender Weise auf "Anna Karenina".
Das Staatsorchester Stuttgart musiziert unter der impulsiven Leitung von Mikhail Agrest ganz ausgezeichnet. Kühle Präsenz wird immer wieder von starken Emotionen unterbrochen. Aspekte der Sehnsucht treten berührend hervor. Bei den Landarbeitern agieren dann auch Schüler der John Cranko Schule. Im Opernfoyer befindet sich Anna wieder in Gesellschaft. Als Star-Sopranistin ist Alicia Torronteras als ""Tatjana" zu hören. In Anspielung auf Annas Selbstmord, bei dem sie sich vor den Zug wirft, sieht man im Vordergrund immer wieder die Attrappe einer Spielzeugeisenbahn. Als Anna im Zweifel über Wronskis rückhaltlose Liebe aus Verzweiflung Selbstmord begeht, ist wieder die aufwühlende Musik von Alfred Schnittke zu hören ("Der Aufstieg", "Auf dem Schlitten - Reue"). Diese Szene hinterlässt den stärksten Eindruck! Anna lässt sich auf der Bühne in ein Loch fallen. Zu den tristen Klängen von "One Day At A Time" von Cat Stevens betrauern Serjoscha, Wronski, Karenin und Lewin ihren Tod.
Zuletzt gab es große Ovationen des Publikums, als John Neumeier die Bühne der Staatsoper betrat. Jubel auch für das gesamte Team.