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NEUARTIGE KLANGÄSTHETIK -- "Der rote Wal" von Vivan & Ketan Bhatti in der Staatsoper STUTTGART

Premiere am 18.6.2025

Natürlich denkt man bei diesem Werk auch an Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern". Eine junge Frau versucht, sich gesellschaftlich und politisch zu positionieren. Die RAF dient als Fluchtpunkt. Isi, eine junge Frau und ihr Freund Pip besuchen mit ihrer Schulklasse ein Theaterstück. Anlässlich eines Jahrestages geht es um die Geschichte der RAF. Auf dem Weg zum Theater wird Isi von der Polizei kontrolliert. Deswegen raucht sie auch mit Pip einen Joint, um sich zu beruhigen. Dann gehen sie zusammen ins Theater.

 

Copyright: Matthias Baus

Dieses ungewöhnliche Musiktheaterstück von Vivan & Ketan Bhatti in der durchaus einfallsreichen Regie von Martin G. Berger schildert in vier Erzählebenen die Geschichte der BRD in den 70er Jahren, wo der RAF-Terror dominierte. In glutvollen Bildern und im weiträumigen Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl und den Kostümen von Alexander Djurkov Hotter (Video: Vincent Stefan) sieht man einen riesigen Wal, der mit aufgerissenem Maul die Erde zu verschlingen scheint. In der letzten Sequenz wird man dann einen Wal erblicken, der im Eckensee vor der Staatsoper in den Fluten auf- und niederstürzt. Zu Beginn nimmt man auch Menschen im Foyer wahr, wo sich ebenso Isi und Pip befinden. Die Staatsoper wird am Ende von Wassermassen geradezu überflutet. Dazwischen sieht man Bilder aus dem Landgericht, wo der spektakuläre Prozess gegen die Baader-Meinhof-Gruppe stattfand. Der Innenraum wird plötzlich von Blutmassen überflutet. 

In der Walschule erzählen die Wal-Lehrer die Geschichte vom Leviathan, einem Urahn der Wale, der um des Friedens willen alle Gewalt bei sich vereint hat. Gladis Blanca fällt wegen ihres Fehlens auf. Weil sie auf dem Schulweg von einem Boot gerammt wurde, möchte sie Rache nehmen. Da bietet der unter Wasser lebende Techbillionär Lone Gladis seine Hilfe an. 

Im zweiten Akt findet sich Isi-Gladis dann in menschlicher Gestalt in einer Demonstration wieder. Abad und Ge nehmen sie mit zu einem Anschlag auf das Riesenaquarium eines Luxusrestaurants.  Isi-Gladis wird verhört. Sie soll gestehen, dass sie die gesuchte Terroristin Ulrike Meinhof ist. Ihre Zeit läuft ab - und der Leviathan bietet ihr die Rückkehr in ihr altes Leben an. Sie will jedoch weiter Rache nehmen und bleibt bei Abad und Ge. Ihre wahre Liebe gilt einer Idee. Das Publikum soll sogar als Geisel genommen werden. Als Ge Pip mit der Waffe bedroht, eskaliert die Situation. Gladis' Zeit ist abgelaufen. Zurück unter Wasser trifft sie auf Lone, der seinen Lohn fordert und sich eine ihrer Flossen abschneidet: "Ich hatte Bock auf Steak und...Walflosse ist einfach lecker." 

Dieses "deutsche Herbstmärchen" stellt alles auf den Kopf und stellt die Frage, wofür der Mensch eigentlich kämpft. Das Drama um die studierte Pfarrerstochter Gudrun Ensslin und die Journalistin Ulrike Meinhof wird eingebettet in die Gewaltausbrüche von Andreas Baader, der als Abad sein Unwesen  zu treiben scheint. Es wird erwähnt, dass Gudrun Ensslin immer wieder Bezug zu Hermann Melvilles Roman "Moby-Dick" genommen hat. Hier wird der verzweifelte Kampf des Kapitäns Ahab gegen den verhassten Weißen Wal geschildert. Und für Ensslin war dieser "Weiße Wal" wohl die Staatsgewalt. 

Die nicht  immer auf gleicher Höhe stehende Musik kennt neben irisierenden Harfenklängen, Glissando- und Tremolo-Passagen auch Hip-Hop-Klänge, Jazz, Hard Rock sowie Klassik und Musiktheater. Manchmal klingen die Streicherpassagen betörend schön und ausdrucksstark. Packend gelingen die großartigen Chor-Passagen, wo der Staatsopernchor mehr als einmal brilliert. Die umsichtige Dirigentin Marit Strindlund hat hier alle Fäden beim Staatsorchester Stuttgart in der Hand und wird vom Chorleiter Manuel Pujol in hervorragender Weise unterstützt! Gerade die Schlusspassagen mit dem sich mit aller Gewalt aufbäumenden Wal haben ungeheure Präsenz und enorme orchestrale Schlagkraft. Hier ist tatsächlich eine neue Klangästhetik entstanden. Vivan & Ketan Bhatti arbeiten aber auch mit raffinierten Klangzitaten. Die "Todesnacht in Stammheim", die Ermordung Hanns Martin Schleyers und die Kaufhausbrandstiftungen werden immer wieder musikalisch höchst komplex thematisiert. 

Hermann Melvilles "Moby-Dick"-Roman erscheint auch in der Person von Holger Meins, der als "Starbuck" Andreas Baader als Kapitän "Ahab" untertan ist und später im Hungerstreik stirbt. Sie wollen das kapitalistische System durch Terror ad absurdum führen und scheitern daran. Märchenhafte Assoziationen zu "Rusalka" und "Arielle" sind ebenfalls gewollt. So gibt es Unterwasseraufnahmen mit vielen Fischen. Aber beide Komponisten wollen kein Dokumentartheater. So gibt es gesprochenes, gerapptes, gesungenes Wort sowie Musical- und Operngesang. Der Weltenwandel schafft dabei eine konsequente Verbindung von Szene und Musik, der auch die Sängerinnen und Sänger Rechnung tragen. 

Zwischen chromatischen Passagen und expressiven Aufschwüngen überzeugen Madina Frey als Isi und Gladis, Matthias Klink als emotionaler Abad, Josefin Feiler als Ge, Maeckes als Lone  sowie Deborah Saffery als Leviathan 1, Jasper Leever als Leviathan 2/Vater Fei sowie Yunus Schahinger als Leviathan 3 und Baron als Pip. Als Schulklasse, Ulrike und Wal-Double Gladis ist die Statisterie der Staatsoper Stuttgart immer wieder höchst präsent vor der Live-Kamera. Beats wie Bass Drum und Snare Drum werden klanglich nachgeahmt. Groove, Rhythmus und Sound vermischen sich. Das Spiel mit kleinsten Verschiebungen ist harmonisch spannend - wenn zum Beispiel Fünfsechzehntel-Motive über einem Viersechzehntel-Raster liegen. 

Sprachaufnahmen von Gudrun Ensslin,  Ulrike Meinhof und Andreas Baader werden musikalisch verarbeitet. Ein Cellist spielt die Sprachmelodie Baaders nach. Dabei spannt sich auch ein Bogen von der Orca-Protagonistin zu den Häftlingen in Stammheim. Andreas Baaders Ausdruck "Eine  Knarre, die spricht" wird in tänzerische Emphase umgesetzt. Unterschiedliche Theatermittel werden in dieser Inszenierung von Martin G. Berger ganz bewusst eingesetzt. Fast historisch anmutende Barock-Formen korrespondieren mit dem im Schnürboden hängenden Leviathan aus dem Malsaal bis hin zu subtilen Videoprojektionen. Matthias Klink als Abad verwandelt sich ständig. Josefin Feiler lässt Sprache und Körper suggestiv verschmelzen. So konnte dieser Abend das Publikum fesseln und überzeugen. 

Es gab viel Applaus und Jubel.     
 

 

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