Dabei schweben die Paare von Seite zu Seite, erkennen sich wieder oder trennen sich in Bourree-Trippelschritten. Melodie, Harmonik und Klang besitzen eine weltschmerzliche Stimmung, die das Staatsorchester Stuttgart unter der sensiblen Leitung von Mikhail Agrest sehr gut einfängt. Der Tenor Airam Hernandez singt das "Trinklied vom Jammer der Erde" mit wilder Lebensgier, die in der Melodie auflodert und von den Tänzern in suggestiver Weise umgesetzt wird. Die Verzweiflung eines Enttäuschten tritt hier deutlich hervor. Als der Ewige erscheint David Moore mit nie nachlassender Intensität - und das Trinklied vom Jammer der Erde verkörpern Jason Reilly, Satchel Tanner, Martino Semenzato, Adrian Oldenburger, Christopher Kunzelmann und Lassi Hirvonen mit bewegender tänzerischer Leuchtkraft. Lyrische Linie und krampfhaftes Aufbäumen wechseln sich dabei in berührender Weise ab.
Die ausdrucksstarke Mezzosopranistin Anna Werle interpretiert dann das Alt-Lied vom "Einsamen im Herbst" in berührender Ausweglosigkeit. Trist und schmerzlich ist hier der Blick auf verlorene Liebe, den Elisa Badenes mit fast traumwandlerischer Sicherheit zusammen mit den weiteren Tänzern Agnes Su, Miriam Kacerova, Veronika Verterich, Satchel Tanner, Martino Semenzato, Adrian Oldenburger und Christopher Kunzelmann einfängt. Und wie einen freundlichen Traum von früher singt der Tenor das Lied "Von der Jugend", dem auch die Tänzer wie auf einem bezaubernden Pastellbild frisches Leben einhauchen (allen voran Agnes Su). Einen besonders tiefen Eindruck hinterlässt hier der vierte Satz "Von der Schönheit", dem die Mezzosopranistin Anna Werle heimliche Freude verleiht, die die Kompanie des Stuttgarter Balletts virtuos verkörpert. Da sieht man die jungen Mädchen am Uferrande Lotosblumen pflücken und man meint, das Spiel der Sonne auf den schlanken Gliedern zu sehen. Zu Marschklängen "tummeln sich schöne Knaben...auf mut'gen Rossen" - und die szenische Gestaltung wirkt hier sehr lebendig.
Das Staatsorchester Stuttgart unter Mikhail Agrest unterstreicht den Ton sehnender Erregung sehr überzeugend, den die Tänzerinnen und Tänzer ganz unmittelbar umsetzen. In seligem Rausch singt dann der Tenor Airam Hernandez vom "Trunkenen im Frühling", preist übermütig Zecherglück und Frühlingswunder. David Moore tanzt den Ewigen mit zielsicherer Direktheit, während Jason Reilly, Martino Semenzato und Satchel Tanner den Trunkenen im Frühling darstellen.
Im letzten und am stärksten wirkenden Schlusssatz stehen Abschied und Verzicht in erschütternder Weise im Mittelpunkt. Da erscheint David Moore wieder wie eine geheimnisvolle Silhouette als der Ewige und den Abschied stellen Elisa Badenes und Jason Reilly in magischen Bewegungsschüben dar. In der Einstudierung von Marcia Haydee gewinnt diese Szene eine ungeahnte Tiefe und tänzerische Reife, die unter die Haut geht. Im zarten Naturbild spiegelt sich so die ergreifende Seelenstimmung des Einsamen, der still und gefasst auf den Tod wartet.
In der einfallsreichen Choreographie von Maurice Bejart (Einstudierung: Gil Roman) beweisen auch Gustav Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" mit den beiden hervorragenden Tänzern Henrik Erikson und Marti Paixa fast mythischen Ausdruckszauber. Yannick Debus ist der voluminöse Bariton, der die jähen Stimmungskontraste mit häufigem Taktwechsel in fesselnder Weise einfängt. Laut Tamas Detrich ist diese Choreographie weniger theatralisch, sondern bezieht sich viel stärker auf die Beziehung zwischen den beiden Tänzern, was ausgezeichnet zur Geltung kommt. Alles wirkt introvertiert und besitzt intime Tiefe. Das ausschreitende Dreiklang-Thema von "Ging heut morgen übers Feld", das zum Hauptthema des Kopfsatzes der ersten Sinfonie geworden ist, wird dabei genauso überzeugend umgesetzt wie das leidenschaftlich expressionistische Stück "Ich hab ein glühend' Messer". "Die zwei blauen Augen von meinem Schatz" mit ihrer elegisch-verträumten Thematik und den Reminiszenzen an den dritten Satz der ersten Sinfonie erfahren in der tänzerischen Darstellung eine sehr direkt und unmittelbar wirkende Umsetzung.
Zuletzt begeistert noch der Auszug aus "Spuren" in der Choreographie von John Cranko sowie Bühnenbild und Kostümen von Jürgen Rose. Hier steht eine von Elisa Badenes ausdrucksstark getanzte Frau zwischen zwei Männern, die David Moore in der Gegenwart und Marti Paixa in der Vergangenheit eindringlich verkörpern. Die Frau wird einen dieser Männer verlieren. Hier denkt man wieder an Gustav Mahlers Biografie, der seine Frau Alma durch eine Affäre verlor und wenig später an einem Herzleiden verstarb. Diese Zeitreise wird vom Adagio aus Gustav Mahlers zehnter Sinfonie illustriert (die von Ernst Krenek und Deryck Cooke vervollständigt wurde), wobei das Staatsorchester Stuttgart unter Mikhail Agrest das von John Cranko beschworene schöne und zerquält-dissonante Thema präzis herausarbeitet. Das Stuttgarter Ballett verkörpert diese Doppelvariation mit unbändiger Energie, wobei sich die beiden Themen aufgrund der tänzerischen Umsetzung sehr deutlich fortwährend verändern. Der weitgespannte Melodiebogen der Bratschen vergrößert hier noch die Breite der Ausdruckscharaktere bis hin zur Klangeruption des höchst dissonanten Neunton-Akkords als Höhepunkt dieses Satzes.
Großer Jubel des Publikums - vor allem, als auch Marcia Haydee auf die Bühne kam.