Die Ähnlichkeiten mit dem ersten Satz seiner neunten Sinfonie sind wahrlich verblüffend und wurden von Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester auch gar nicht geleugnet. Der Zauber der Doppelvariation kam hier jedenfalls voll zum Vorschein. Und auch die fortwährende Veränderung von zwei Themen interpretierte Teodor Currentzis mit akribischer Präzision und nie nachlassender Energie. Die Reste der "Sonatenform" blitzten immer wieder in reizvoller Weise hervor. Der weitgespannte Melodiebogen der Bratschen erreichten eine bestechende Strahlkraft, die nicht nachließ.
Die Variationsmöglichkeiten der Themen und die enorme Breite der Ausdruckscharaktere wurden voll ausgekostet. Es kam zu gewaltigen dynamischen Steigerungen von verhaltener Zartheit bis hin zu fast brutaler Klangeruption. Auf dem Höhepunkt des Satzes fesselte die aufwühlende Wiedergabe des höchst dissonanten Neunton-Akkords. Und die differenzierte thematische Kontrapunktik zeigte immer wieder neue Facetten.
"La Commedia" für großes Orchester von Alexey Retinsky folgte als Kompositionsauftrag des SWR dieser bewegenden Wiedergabe, wobei Anklänge an Mahlers zehnte Sinfonie auch hier herauszuhören waren. Die elektrisierende Chromatik von Richard Wagners "Tristan und Isolde" machte sich bei dieser suggestiven Komposition bemerkbar, die zahlreiche rituelle Momente enthielt.
Strukturelle Elemente beherrschten dann "Remanences-Palimpseste" von Philippe Manoury als weitere SWR-Uraufführung. Für diesen französischen Komponisten spielt die Lebenssituation Mahlers keine große Rolle. Neben Richard Wagner und Claude Debussy sind auch andere Einflüsse zu hören. Verschiedene Klangkombinationen wurden bei dieser subtilen Wiedergabe mosaikartig zusammengefügt, wiederum ergänzt durch Mahler-Anklänge.
Als weiterer Kompositionsauftrag des SWR und deutsche Erstaufführung stand dann "Echographie 4" von Mark Andre auf dem Programm, das sich auf ein physikalisches Verfahren bezieht, bei dem es um die "akustische Abtastung" des Aufführungsraums geht. Es war eine eindringliche Musik im Entschwinden, der man hier lauschen konnte. Ein elektroakustischer "Sweep" zwischen 20 Hertz und 20 Kilohertz beherrschte diese "akustische Raumsignatur" im Beethovensaal. So kam es zu einer "Offenbarung der fragilsten, innigsten, instabilsten, intensivsten Zwischenzeiträume". Assoziationen zu Weltraumerfahrungen ergaben sich dabei von selbst. Teodor Currentzis leitete diese Echo-Variationen mit äusserster Konzentration - und das Orchester folgte seinen Intentionen genau.
Zuletzt war als weiterer Kompositionsauftrag des SWR "Theta", Music for Orchestra VIII von Jay Schwartz zu hören, wo viele Glissando-Effekte das Pizzicato-Gerüst durchbrachen. Theta ist das griechische Symbol für den Ausgangspunkt einer Winkelberechnung - zugleich wird damit der Tod symbolisiert. Der Urton der Todessehnsucht Mahlers brannte sich bei dieser Interpretation ins Gemüt. Johann Sebastian Bachs Geistliches Lied "Komm, süßer Tod" schimmerte in geheimnisvoller Weise hindurch. Auch diese Klangwelt war von Glissandi geprägt, die von einem Ton zum nächsten Halbton über mehrere Takte gingen. Neben dem Werk von Mark Andre hinterließ diese Komposition fast den stärksten Eindruck. "Bravo"-Rufe und Begeisterung im lange applaudierenden Publikum.
Als Zugabe musizierten Maxim Kosinov und Vivica Percy (Violine), Raphael Sachs (Viola) und Frank-Michael Guthmann (Violoncello) bei der "Nach(t)musik" die "Lyrische Suite" für Streichquartett von Alban Berg. Berg schrieb dieses Werk für eine Schwester Franz Werfels. Die zwölftönigen Teile versteckten sich auch bei dieser feingliedrigen Interpretation hinter den freien Teilen, wobei das Musizieren nie mechanisch wirkte, sondern sich der großen Form anpasste. "Schicksal erleidend" wurde das motivische Material bei dieser Wiedergabe konsequent durchgeführt. Zwischen H-Dur und F-Dur sprang das heitere Allegretto gioviale hin und her - und eine unheimliche Atmosphäre besaß das Allegro misterioso mit kanonisch verarbeiteten Tonfiguren. Das Adagio enthielt dann deutliche Assoziationen zu Richard Wagners "Tristan" und der "Lyrischen Sinfonie" von Alexander Zemlinsky nach einem Gedicht von Rabindranath Tagore, wobei die Musiker die "Unerfüllbarkeit der Liebessehnsucht" in ergreifender Weise herausarbeiteten.