Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
MUSIK IM ENTSCHWINDEN - SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis im Beethovensaal der Stuttgarter LiederhalleMUSIK IM ENTSCHWINDEN - SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis im...MUSIK IM ENTSCHWINDEN -...

MUSIK IM ENTSCHWINDEN - SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle

am 7. Dezember 2023

Gustav Mahlers Adagio aus der unvollendet gebliebenen Sinfonie Nr. 10 in fis-Moll stand im Mittelpunkt dieses denkwürdigen Konzerts mit Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester. Diese Zehnte war allerdings weiter vollendet, als Arnold Schönberg im Jahre 1912 wusste. Mahler litt zu dieser Zeit unter Liebeskummer, da seine Frau Alma eine Affäre mit Walter Gropius begonnen hatte. Das Adagio gehört als ausgedehnter langsamer Satz zu den eindrucksvollsten langsamen Sätzen Gustav Mahlers.

 

Copyright: Liederhalle Stuttgart: Beetvovensaal

Die Ähnlichkeiten mit dem ersten Satz seiner neunten Sinfonie sind wahrlich verblüffend und wurden von Teodor Currentzis und dem SWR Symphonieorchester auch gar nicht geleugnet. Der Zauber der Doppelvariation kam hier jedenfalls voll zum Vorschein. Und auch die fortwährende Veränderung von zwei Themen interpretierte Teodor Currentzis mit akribischer Präzision und nie nachlassender Energie. Die Reste der "Sonatenform" blitzten immer wieder in reizvoller Weise hervor. Der weitgespannte Melodiebogen der Bratschen erreichten eine bestechende Strahlkraft, die nicht nachließ.

Die Variationsmöglichkeiten der Themen und die enorme Breite der Ausdruckscharaktere wurden voll ausgekostet. Es kam zu gewaltigen dynamischen Steigerungen von verhaltener Zartheit bis hin zu fast  brutaler Klangeruption. Auf dem Höhepunkt des Satzes fesselte die aufwühlende Wiedergabe des höchst dissonanten Neunton-Akkords. Und die differenzierte thematische Kontrapunktik zeigte immer wieder neue Facetten.

"La Commedia" für großes Orchester von Alexey Retinsky folgte als Kompositionsauftrag des SWR dieser bewegenden Wiedergabe, wobei Anklänge an Mahlers zehnte Sinfonie auch hier herauszuhören waren. Die elektrisierende Chromatik von Richard Wagners "Tristan und Isolde" machte sich bei dieser suggestiven Komposition bemerkbar, die zahlreiche rituelle Momente enthielt.

Strukturelle Elemente beherrschten dann "Remanences-Palimpseste" von Philippe Manoury als weitere SWR-Uraufführung. Für diesen französischen Komponisten spielt die Lebenssituation Mahlers keine große Rolle. Neben Richard Wagner und Claude Debussy sind auch andere Einflüsse zu hören. Verschiedene Klangkombinationen wurden bei dieser subtilen Wiedergabe  mosaikartig zusammengefügt, wiederum ergänzt durch Mahler-Anklänge.

Als weiterer Kompositionsauftrag des SWR und deutsche Erstaufführung stand dann "Echographie 4" von Mark Andre auf dem Programm, das sich auf ein physikalisches Verfahren bezieht, bei dem es um die "akustische Abtastung" des Aufführungsraums geht.  Es war eine eindringliche Musik im Entschwinden, der man hier lauschen konnte. Ein elektroakustischer "Sweep" zwischen 20 Hertz und 20 Kilohertz beherrschte diese  "akustische Raumsignatur" im Beethovensaal. So kam es zu einer "Offenbarung der fragilsten, innigsten, instabilsten, intensivsten Zwischenzeiträume". Assoziationen zu Weltraumerfahrungen ergaben sich dabei von selbst. Teodor Currentzis  leitete diese Echo-Variationen mit äusserster Konzentration - und das Orchester folgte seinen Intentionen genau.

Zuletzt war als weiterer Kompositionsauftrag des SWR "Theta", Music for Orchestra VIII von Jay Schwartz zu hören, wo viele Glissando-Effekte das Pizzicato-Gerüst durchbrachen.  Theta ist das griechische Symbol für den Ausgangspunkt einer Winkelberechnung - zugleich wird damit der Tod symbolisiert. Der Urton der Todessehnsucht Mahlers brannte sich bei dieser Interpretation ins Gemüt. Johann Sebastian Bachs Geistliches Lied "Komm, süßer Tod" schimmerte in geheimnisvoller Weise hindurch. Auch diese Klangwelt war von Glissandi geprägt, die von einem Ton zum nächsten Halbton über mehrere Takte gingen. Neben dem Werk von Mark Andre hinterließ diese Komposition fast den stärksten Eindruck. "Bravo"-Rufe und Begeisterung im lange applaudierenden  Publikum.

Als Zugabe musizierten Maxim Kosinov und Vivica Percy (Violine), Raphael Sachs (Viola) und Frank-Michael Guthmann (Violoncello) bei der "Nach(t)musik" die "Lyrische Suite" für Streichquartett von Alban Berg. Berg schrieb dieses Werk für eine Schwester Franz Werfels. Die zwölftönigen Teile versteckten sich auch bei dieser feingliedrigen Interpretation hinter den freien Teilen, wobei das Musizieren nie mechanisch wirkte, sondern sich der großen Form anpasste. "Schicksal erleidend" wurde das motivische Material bei dieser Wiedergabe konsequent durchgeführt. Zwischen H-Dur und F-Dur sprang das heitere Allegretto gioviale hin und her - und eine unheimliche Atmosphäre besaß das Allegro misterioso mit kanonisch verarbeiteten Tonfiguren.  Das Adagio enthielt dann deutliche Assoziationen zu Richard Wagners "Tristan" und der "Lyrischen Sinfonie" von Alexander Zemlinsky nach einem Gedicht von Rabindranath Tagore, wobei die Musiker die "Unerfüllbarkeit der Liebessehnsucht" in ergreifender Weise herausarbeiteten.
 

 

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 20 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

MIT RASANTEM SCHMISS -- Monrepos Open Air - Abschlusskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Diesmal war nun endlich die lang erwartete mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra zu Gast bei den Schlossfestspielen. Zunächst musizierte das exzellente Orchester des Goethe-Gymnasiums…

Von: ALEXANDER WALTHER

IM BAUCH DES RITTERS -- "Falstaff" von Giuseppe Verdi in der Blauen Halle - Mainfrankentheater Würzburg

In der einfallsreichen Inszenierung von Magdalena Fuchsberger (Bühnenbild und Kostüme: Monika Biegler, Video: Aron Kitzig) befindet sich die Handlung im Bauch des alternden Ritters Falstaff, der von…

Von: ALEXANDER WALTHER

LEIDENSCHAFTLICHE AUSBRÜCHE -- SWR Symphonieorchester mit Eva Ollikainen in der Liederhalle Stuttgart

Das "Märchenpoem" von Sofia Gubaidulina war eine echte Überraschung. Denn die finnische Dirigentin Eva Ollikainen arbeitete mit dem SWR Symphonieorchester die elektrisierend-durchsichtige Klangfläche…

Von: ALEXANDER WALTHER

WANDERER ZWISCHEN DEN WELTEN -- Galeriekonzert der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie in der Staatsgalerie STUTTGART

Unter dem Motto "Wanderer" fand diesmal das Galeriekonzert mit dem begnadeten Bass-Bariton Jochen Kupfer statt, der einfühlsam von Marcelo Amaral am Flügel begleitet wurde. Die Lieder von Franz…

Von: ALEXANDER WALTHER

DEM VOLKSTÜMLICHEN VERBUNDEN -- Zweiter Teil des Tschaikowsky-Zyklus' mit dem Staatsorchester Stuttgart in der Liederhalle/STUTTGART

Das Staatsorchester Stuttgart musizierte unter der elektrisierenden Leitung von Cornelius Meister im zweiten Teil des Tschaikowsky-Zyklus zunächst die selten zu hörende Sinfonie Nr. 2 in c-Moll aus…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑