Alle Jahre wieder hänselt und gretelt es auf deutschen Opernbühnen - alle Jahre wieder dieselben Szenen, wenn der Zuschauernachwuchs von fürsorglichen Erziehungsberechtigten erst zu Stuhle und dann (hoffentlich) zur Ruhe gebracht wird - alle Jahre wieder dieselbe Ungeduld auf den Gesichtern, wann das (laut Partitur) in "ruhiger, nicht zu langsamer Bewegung" begonnene große sinfonische Vorspiel endlich zu Ende kommen und den Blick auf die Märchenwelt und deren quirlige Bewohner freigeben würde... Kein Zweifel, Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" ist und bleibt eine der populärsten Opern im Repertoire und - trotz aller Unkenrufe - die einzige Kinder- aber auch Weihnachtsoper, die sich auf den Spielplänen wie eine unumstößliche Institution erhalten hat.
Dabei verschlägt es wenig, dass das Grimmsche Märchen eigentlich gar nichts mit Weihnachten zu tun hat, die Uraufführung (übrigens unter Leitung von Richard Strauss) fand allerdings am 23. Dezember 1893 statt. Und auch das im engeren Sinne Kindliche will angesichts der komplexen Satz- und Leitmotivtechnik und des (Post)Wagner-Parlandos nicht so ganz einleuchten, zumal Märchen und Libretto bekanntlich allerlei "bedenkliche" moralische Fußangeln und Untiefen enthalten, ohne dass deren Vermessung gleich in tiefenpsychologische Kraftakte ausarten müsste...
Nun hat letzteres weder die Gouvernanten der Kaiserzeit und schon gar nicht die Elternschaft aus der 68er Generation gestört, sofern diese überhaupt den sexualisierten Subtext der Oper wahrnehmen wollten - oder konnten. Zwar ist - aufs Ganze der Opernlandschaft - gesehen, die Zeit der cleanen und damit ästhetisch beliebigen "Hänsel-und-Gretel"-Tradition noch keineswegs vorbei, längst häufen sich jedoch die Interpretationen, die in Humperdincks psychologisch fein gearbeitetem Meisterwerk mehr sehen wollen als einen bunten Bilderbogen aus dem Adventskalender. Dabei braucht man nicht gleich so weit zu gehen wie Giancarlo del Monaco, der 2004 in einer Version für Erwachsene die Oper als eine Geschichte des Kindesmissbrauchs erzählte. Dass damals an gleicher Stätte (Erfurt) eine für Kinder gedachte herkömmliche Fassung herauskam, macht die Crux jeder die tieferen Schichten auslotenden Beschäftigung mit dem Stück aus.
Jürgen Roses Kölner Inszenierung von 2005, ein Jahr später erfolgreich wieder aufgelegt, trägt dem auf ihre Weise Rechnung, indem sie einen szenisch höchst stimmigen Spagat zwischen psychologischer Symbolik und naivem Märchenzauber unternimmt: Da lässt sich mit Kinderaugen staunen über das in allen Farben leuchtende Hexenhaus, der düstere Wald (vielleicht ein wenig karg und expressionistisch geraten) ist einfach zum Fürchten, aber auf den Zweigen kann man dann wieder wunderbar herumturnen - und einschlafen. Andererseits werden der ganz alltägliche Ehefrust in der elterlichen Kate und vor allem der latente Sadismus der Stiefmutter keineswegs ausgespart. Letztere darf, ganz Vollweib, im dritten Akt ihre Obsessionen als Hexe ausleben, um am Schluss (allerdings sehr vorläufig domestiziert) in den Schoß der Familie zurückzukehren.
Und dann sind da ja noch die Engel: Rose hat sie in Abendsegen und Traumpantomime des zweiten Aktes angetroffen und mit ihnen auch die übrigen Szenen bevölkert. Da wirkt zwar manches etwas überpointiert, aber dennoch ist mit dieser Idee eine ganz eigene Dimension des Übernatürlichen in die Aufführung eingezogen, die natürlich in der großen sinfonischen Traumszene ihren Höhepunkt erreicht. An anderer Stelle fragt man sich, wo denn diese sonderbaren Geistwesen abgeblieben sind, wenn sie ihre Schutzbefohlenen ausgerechnet auf dem Weg in die größte Lebensgefahr (scheinbar) im Stich lassen. Aber dies sind Einzelheiten angesichts eines insgesamt höchst sehens- und in der vorweihnachtlichen Aufführungsserie auch hörenswerten Wurfs. Wie heißt es doch am Ende des Grimmschen Märchens: "Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen." Gilt dies nicht auch für jede Opernkritik?