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BLICK IN ABGRÜNDE -- "Lulu" von Alban Berg in der Oper Frankfurt

am 23. November 2024

Die Ambivalenz der Frauenfigur Lulu kommt in dieser Inszenierung von Nadja Loschky im eher schroffen Bühnenbild von Katharina Schlipf und den Kostümen von Irina Spreckelmeyer voll zur Geltung. Lulu wirkt alles beherrschend und stark - gleichzeitig ist sie ein kaputtes Wesen. Erzählt wird die Geschichte einer Frau zu Beginn des 20. Jahrhunders, man spürt den brodelnden gesellschaftlichen Sprengsatz.

 

Copyright: Barbara Aumüller

Die Weimarer Republik und der Erste Weltkrieg sind gerade erst überwunden.  Die Goldenen Zwanziger und das Aufkommen des Nationalsozialismus stehen strahlend und drohend im Hintergrund. So sieht man im dritten Akt kurz vor der Ermordung Lulus durch Jack the Ripper eine große Müllhalde. Und die Rollenbilder von Männern und Frauen sind immer noch eher konservativ. Die lesbische Gräfin Geschwitz kann die patriarchalen Strukturen ebenfalls nicht überwinden. Dass die Handlung auf zwei Ebenen abläuft, wird hier recht präzis herausgearbeitet. Neben dem realistischen Frauenporträt gibt es auch eine  archaische Erzählung, die neue Welten berührt.

Auf der realistischen Ebene wird Lulu von Schigolch und dem Zeitungsredakteur Dr. Schön von der Straße geholt. Lulu wird bereits als junges Mädchen von Schigolch missbraucht, später missbraucht sie auch Dr. Schön. Sie verfolgt obsessiv ihr Ziel, Schöns Frau zu werden, die Ehe eskaliert und scheitert, Lulu erschießt Dr. Schön in Notwehr. Ihr Niedergang beginnt als Prostituierte in London, wo sie schließlich von Jack the Ripper ermordet wird. Zu Beginn und mittendrin hört man immer wieder gespenstische Metronomschläge, deren Intensität und Lautstärke zunimmt. Hier wird die mythologisch-okkulte Ebene sichtbar, die weit über das Realistische hinausgeht. Der Mythos der "Büchse der Pandora" von Wedekind nimmt in unheimlicher Weise Gestalt an. So ist auch die Ermordung Lulus durch Jack the Ripper eine schauerlich-unrealistische Szene. Lulu funktioniert vorher wie ein Brandbeschleuniger, der Bedrohlichkeit sichtbar macht.

In dieser entfremdeten Welt gibt es nur weniger Momente der Selbstbegegnung. Lulu steht mit dem "Schmutz" in unmittelbarer Verbindung. Dieser Schmutz ist in dieser Inszenierung überall und wird alle und alles überfluten. Begehren, Trieb und Natur gehen nahtlos ineinander über. Als Dr. Schön von Lulu erschossen wird, dringt dieser graue Schmutz förmlich aus seinem Leib.

Bei Nadja Loschkys Regie sind Dr. Schön und Lulu das Zentrum der Handlung. Und wenn am Ende der Oper Jack the Ripper als dunkler Wiedergänger des Dr. Schön auftaucht, besitzt dies eine zwangsläufige Folgerichtigkeit. Am Ende hat Lulu deutliche Spuren hinterlassen. Und der Bühnenraum mit seinen riesigen Stellwänden ist in ständiger Bewegung. Diese Inszenierung zeigt kaum Brüche und überzeugt durch ihre logische Konsequenz. Als Lulus zweites Gesicht erscheint hier die Tänzerin Anima in Gestalt von Evie Poaros. Die gesamte Gesellschaft wirkt zuletzt immer grotesker, es erscheint eine hohnlachende Figur mit Totenschädel. Starke Bilder.  

Auch musikalisch gelingt die Aufführung vortrefflich. Thomas Guggeis beschwört als einfühlsamer Dirigent mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester die Geschlossenheit musikalischer Formen sehr konsequent. Die chromatischen  Motive beim Auftritt des Asthmatikers Schigolch brennen sich geradezu ins Gedächntis. Dass die Auseinandersetzung Lulus mit Dr. Schön der Anfangsteil einer "Sonate" ist, kann man gut nachvollziehen. Die wilde Glut von Alban Bergs Harmonik kommt bei Thomas Guggeis hervorragend zur Geltung. Und das aufklärende Gespräch Dr. Schöns mit dem Maler beschwört einen einzigen Rhythmus vom Grave bis zum Prestissimo fast ultimativ. Im dritten Bild triumphieren Ragtime und English Waltz, der Heiratsantrag des Prinzen ist ein skurriler Choral, der vom Cello begleitet wird. Der Dialog Lulus mit Dr. Schön  wird zur konsequenten Durchführung. Die Geschwitz, Rodrigo und der Gymnasiast erscheinen in  Rezitativszenen zwischen Pentatonik, massigen Klavierakkorden und Fanfaren. Alwas Liebeswerben in Rondoform schließt sich an und unterstreicht den  fast spätromantisch-fließenden Charakter dieser glutvollen Interpretation von Thomas Guggeis, der in Dr. Schöns großem Ausbruch in fünfstrophiger Arienform gipfelt. Brenda Rae als Lulu gestaltet nicht nur das Koloraturlied mit überaus leuchtkräftigen Spitzentönen, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Und nach Schöns Tod wirkt die Arietta Lulus fragil und explosiv zugleich.

In den grandios gestalteten Orchesterzwischenspielen überwältigt Bergs Tonsprache mit ihrer virtuosen Beherrschung der Zwölftontechnik. Gespielt wird hier die Rekonstruktion des dritten Aktes durch den Wiener Komponisten  Friedrich Cerha, die sorgfältig Lulus Schicksal auf den Pariser und Londoner Schauplätzen beschreibt. Simon Neal gestaltet die subversive Rolle des Chefredakteurs Dr. Schön mit emotionalen Ausbrüchen, die den Klangfarbenreichtum seines sonoren Baritons wirkungsvoll unterstreichen.  AJ Glueckert als Schriftsteller Alwa fesselt ebenfalls mit der Wandlungsfähigkeit seines Tenors. Claudia Mahnke imponiert als Gräfin Geschwitz aufgrund der Intensität ihrer sehr beweglichen Altstimme. In weiteren Rollen gefallen Theo Lebow als verzweifelter Maler und Freier, Kihwan Sim als Tierbändiger und Athlet,  Alfred Reiter als markanter Schigolch, Bianca Andrew als Groom, Theatergarderobiere und Gymnasiast sowie Michael Porter als Prinz, Kammerdiener und Marquis. Bozidar Smiljanic als Theaterdirektor und Diener, Erik van Heyningen als Medizinalrat, Bankier und Professor, Anna Nekhames als Fünfzehnjährige, Katharina Magiera als Mutter, Cecilia Hall als Kunstgewerblerin sowie Leon Tchakachow als  Journalist und Clown runden den eindrucksvollen Sängerreigen ab.

Dass  Berg seine Zuflucht zu strengeren Formen und beinahe flexiblen Nicht-Formen sucht (wie Pierre Boulez dies beschreibt), wird beim hoch konzentrierten Dirigat von Thomas Guggeis ausgezeichnet deutlich. Eine spezifische Hierarchie beherrscht hier neben dem Rhythmus alle anderen Dimensionen der Sprache. Bestimmte musikalische Formen werden laut Boulez in "Lulu" als beklemmende Zeichen für innere Konflikte und gefährliche Situationen verwendet. Dieses "Zeichen"-Vokabular beweist auch in der sehenswerten Frankfurter Aufführung seine große Wirksamkeit. Schigolchs Chromatik, die suggestiven Quinten der Geschwitz und die obskure Pentatonik des Athleten gewinnen eine starke Einheit.

Am Schluss Jubel und Ovationen des Publikums.

 

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