Wenn man der Hauptfigur dieses Stücks glauben will, dann hat die berühmte orangene Revolution in der Ukraine nicht Freiheit und Begeisterung, sondern Chaos und Verzweiflung gezeitigt. Wer dort seine Sinne einigermaßen beieinander hat, will in den goldenen Westen fliehen. Offenbar besonders die Frauen. Ein fetter katholischer Geistlicher in Venedig bringt es mit einem taktlosen Witz auf den Punkt: „Was macht ein Deutscher in einem westeuropäischen Bordell? Er macht Liebe. Was macht ein Italiener? Er macht Amore. Was macht ein Ukrainer? Er sucht seine Frau.“
Im Würgegriff dieser todtraurigen Thematik schnappt das Stück des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch von Anfang bis Ende vergeblich nach Luft. Es geht um einen Kulturhelden der orangenen Revolution. Einen Dichter. Er heißt Stanislaw Perfetzki und hat noch viele andere Namen, wir sehen ihn doppelt, einmal deutsch, einmal ukrainisch sprechend. Er ist nach Venedig gekommen, weil er bei einem Kongress mit dem provokanten Thema „Europa am Vorabend der Einigung oder der Spaltung?“ auftreten soll. Gewisse Kreise haben den Verdacht, er plane einen Terroranschlag gegen hohe Vertreter der Europäischen Union, aus Protest gegen den Bau des „cordon sanitaire“ an den Ostgrenzen der EU, mit dem auf westlicher Seite die Zuwanderung gestoppt werden soll. „Vor unseren Augen vollzieht sich eine neue Teilung der Welt, und das Traurigste ist – dies geschieht mitten in Europa“, äußert Perfetzki entsetzt - und macht sich damit natürlich verdächtig.
Andruchowytsch schickt nun seinen Helden, immer bespitzelt von der schönen Lockvogelfrau, die er liebt (wunderbar: Constanze Becker), auf einen Höllentrip in die Unterwelt der westlichen Zivilisation. Ein Tummelplatz der Migranten, der Illegalen, der Killer und korrupten Kirchendiener. Sie sind nicht zu fassen, sie verwandeln sich in Windeseile in karnevaleske Fratzen oder ergehen sich in politischen Maskeraden. Sie reden in drei Sprachen durcheinander und aneinander vorbei. Das Wasser steigt unterdessen in Venedig, überflutet die Gassen, die Verwirrung erfasst alles und jeden, auch uns Zuschauer. Nein, die eine Welt ist nicht besser als die andere, keine ist gut, der Mensch ist des Menschen Wolf. Am Schluss bleibt hier nur der Selbstmord. Perfetzkis Füße ragen kalt aus dem trüben venezianischen Nass. Orpheus ist tot. Vorhang zu und alle Fragen offen.
Nach Andzej Stasiuks „Nacht“ ist diese Uraufführung die zweite internationale Koproduktion in der Reihe DAS NEUE EUROPA, die im Düsseldorfer Schauspielhaus von einem Ensemble in deutscher, italienischer und ukrainischer Sprache gespielt wird.
Wieder hat Generalintendantin Anna Badora Regie geführt und die Kräfte ihrer reichen Bühnenfantasie aufgeboten. Sie stellt ausgiebig die äußeren Turbulenzen dieses krausen Stücks zur Schau. Aber sie spürt zu selten den inneren Beweggründen derer nach, die den gewaltigen Umwälzungen unserer Zeit zum Opfer fallen oder von ihnen profitieren.
Darunter leiden auch die Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieler aus drei Ländern, die intensiv und temperamentvoll, aber irgendwie atemlos und auf verlorenem Posten agieren.
Viel Beifall, auch für den anwesenden Autor.
Uraufführung am 16. September 2005 im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses