Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Uraufführung: SPUREN DER VERIRRTEN von Philip Glass, Eröffnung des neuen Musiktheaters am Volksgarten in LinzUraufführung: SPUREN DER VERIRRTEN von Philip Glass, Eröffnung des neuen...Uraufführung: SPUREN DER...

Uraufführung: SPUREN DER VERIRRTEN von Philip Glass, Eröffnung des neuen Musiktheaters am Volksgarten in Linz

Premiere 12. April 2013, 19.30 Uhr Großer Saal. -----

„Wo sind wir?“ – Die Frage, mit der die „Passanten“ Peter Handkes 2006 entstandene Spuren der Verirrten beschließen, verweist in unheilvollem Zirkelschluss auf den Anfang des Textes, wo „Der Zuschauer“ zwei Gestalten sieht, die den Weg mit Brotbrocken markieren.

 

Das kaum kaschierte Hänsel und Gretel-Zitat („Ist es für den Rückweg?“) etabliert schon zu Beginn die Sehnsucht nach einer Heimat oder einem Zuhause, die in Handkes zwischen Alltäglichem und Mythischem virtuos jonglierender Text-Welt jedoch zunehmend anachronistisch anmutet.

 

Eingerahmt von einem formal gefassten Solisten-Trio – „Der Zuschauer“, „Der Protagonist“ und „Der Dritte“ – pilgern immer wieder Paare scheinbar ziellos über den kaum definierten Bühnenraum, und die Versatzstücke ihrer Sprechtexte enthüllen ein Ausmaß an vergeblicher Sinnsuche, das in seiner provokant ausgestellten Banalität geradezu beklemmend ist („Und?“ – „Höchstens noch ein, zwei Tage.“ – „Und es gibt keinen Ausweg mehr?“ – „Nein.“ – Hast Du auch alles versucht?“ – „Alles.“).

 

Dass Handke bzw. Regisseur David Pountney in der zweiten Stückhälfte mit einem veritablen Ikonen-Kabinett aus Tätern und Opfern der abendländischen Religionsund Kulturgeschichte aufwarten – Salome und Herodes, Abraham und Isaak, Medea und Ödipus, gepaart mit Octavian und der Marschallin aus dem Rosenkavalier (für Handke wie für Hofmannsthal ist die Zeit ein „sonderbar Ding“) – vergrößert die Not ins Metaphysische, ohne jedoch in Erlösung zu münden.

 

Diesen wachen Text vom Beginn des dritten Jahrtausends zu einer Oper umzugestalten, ist eine Aufgabe, für die Philip Glass wie kein Zweiter prädestiniert erscheint. Trotzt doch sein Opernschaffen als Hommage an große „Lichtgestalten“ der Menschheit – Einstein, Gandhi oder Echnaton – der Geschichte mutig jenen Sinn ab, den ihr Handke vordergründig nicht mehr zuzutrauen vermag.

 

David Pountneys Uraufführungs-Inszenierung verweigert sich allerdings jeder tristen Resignation, verfällt aber auch keinem hohlen Zukunftsoptimismus. Während im ersten Akt der Oper die Handke-Szenen geradezu mit Beckettscher Schärfe zugespitzt werden, entlarvt der zweite Akt die Sinnstiftungsangebote der Mythen mit fröhlicher Respektlosigkeit als heillose Versprechen. Der Showdown zwischen dem abdankenden „Protagonisten“ und dem auf Geschichten bestehenden „Zuschauer“ hinterfragt subtil die Setzung, dass jede Story zwangsläufig Sinn beinhaltet oder erzeugt. Die Suche macht den Sinn postuliert ein fulminant euphorisches Finale, das alle Verirrten an dem Ort vereint, der den Heimatlosen aller Zeiten – von Aischylos’ Orest bis Handkes Kaspar – vielleicht als einziger ein Zuhause geben konnte und kann: das Theater.

 

Auftragswerk des Landestheaters Linz

Oper in drei Akten für Sänger, Schauspieler, Tänzer, Chor und Orchester

Libretto nach dem gleichnamigen Stück von Peter Handke eingerichtet von Rainer Mennicken

In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

 

MUSIKALISCHE LEITUNG Dennis Russell Davies / Ingo Ingensand

INSZENIERUNG David Pountney

BÜHNE Robert Israel

KOSTÜME Anne Marie Legenstein

CHOREOGRAFIE Amir Hosseinpour

LICHTDESIGN Fabrice Kebour

CHORLEITUNG Georg Leopold

DRAMATURGIE Wolfgang Haendeler

 

Mit

Martin Achrainer / Seho Chang (F), Elisabeth Breuer / Martina Fender (K), Iurie Ciobanu / Matthäus Schmidlechner (H), Bram de Beul (A), Nikolai Galkin / Dominik Nekel (J), Gotho Griesmeier / Mari Moriya (E), Kathryn Handsaker / Martha Hirschmann (G), Kathryn Handsaker / Christa Ratzenböck (Der Dritte), Jacques le Roux / Pedro Velázquez Díaz (C), Cheryl Lichter / Karen Robertson (D), Peter Pertusini (Der Protagonist), Sophy Ribrault (B), Lutz Zeidler (Der Zuschauer) sowie das Tanzensemble aus: Sergio Gianotti, Clara Pascual Martí, Giselle Poncet, Morgan Reid, Stine Rønne, Emanuele Rosa, Tine Schmidt, Eva Svaneblom, Ilja van den Bosch

 

Chor des Landestheaters Linz

Extrachor des Landestheaters Linz

Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz

Gastchöre des Landes OÖ

Statisterie des Landestheaters Linz

Bruckner Orchester Linz

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 18 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

NICHT AUF DEN LITURGISCHEN BEREICH BESCHRÄNKT --- Bruckners e-Moll-Messe und Motetten bei BR Klassik

Anders als die frühe d-Moll-Messe blieb die 1866 in Linz komponierte e-Moll-Messe nicht auf den liturgischen Bereich beschränkt. Die alten Kirchentonarten stehen bei der Messe in e-Moll von Anton…

Von: ALEXANDER WALTHER

GLUT UND FEUER -- Jubiläumskonzert 40 Jahre Kammersinfonie im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

1984 wurde dieser für die Region so bedeutende Klangkörper von Peter Wallinger gegründet. Unter der inspirierenden Leitung von Peter Wallinger (der unter anderem bei Sergiu Celibidache studierte)…

Von: ALEXANDER WALTHER

EINE FAST HYPNOTISCHE STIMMUNG -- Gastspiel "Familie" von Milo Rau mit dem NT Gent im Schauspielhaus STUTTGART

Dieses Stück erzielte bei Kritikern zum einen große Zustimmung, zum anderen schroffe Ablehnung. Vor allem die nihilistischen Tendenzen wurden getadelt. Der Schweizer Milo Rau hat hier das beklemmende…

Von: ALEXANDER WALTHER

MIT LEIDENSCHAFTLICHEM ÜBERSCHWANG -- Richard Wagners "Walküre" mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra konzertant im Festspielhaus/BADEN-BADEN

Wagner hatte die Komposition der "Walküre" im Sommer 1854 begonnen, noch vor der Vollendung der "Rheingold"-Partitur. Der Dirigent Yannick Nezet-Seguin begreift mit dem vorzüglich disponierten…

Von: ALEXANDER WALTHER

AUFSTAND DER UNTERDRÜCKTEN -- "Farm der Tiere von George Orwell im Schauspielhaus Stuttgart

"Kein Tier in England ist frei!" So lautet das seltsame Motto von George Orwells "Farm der Tiere", die wie "1984" auch irgendwie eine seltsame Zukunftsvision ist. Die Tiere wie Hunde, Hühner, Schafe…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑