Mit den vier Temperamenten – phlegmatisch, sanguinisch, cholerisch, melancholisch –, die Hippokrates als Grundlage für die Beschreibung des menschlichen Wesens dienten, beschäftigte sich George Balanchine in seinem 1946 uraufgeführten Ballett „Die vier Temperamente“. Das ganz dem Neo-Klassizismus zuzuordnende Stück bildet den Ausgangspunkt eines beeindruckenden Ballettabends des Ballettes am Rhein. Darüber hinaus wurden vier Choreographen/-innen eingeladen, sich mit jeweils einem Temperament neu auseinanderzusetzen. So darf sich der Zuschauer auf vier herausragende, sehr unterschiedliche Choreographien freuen.
Gestartet wird zunächst jedoch mit Balanchines Ballett selbst. Es bietet ein hohes Maß an Präzision, Ausgeglichenheit und Vollendung. Das klassische Ballettvokabular hat er weiterentwickelt, indem etwa dem Knie in kleinen Abweichungen von der Tradition mehr Sichtbarkeit verliehen wird. Die vier Gemütszustände sind zur gleichnamigen Musik von Paul Hindemith in freien Stimmungsbildern wiedergegeben, sie lassen sich nicht eindeutig identifizieren, allenfalls zeichnet sich der phlegmatische durch etwas kraftlosere Bewegungen, der melancholische durch mehr Bodennähe aus.
Die Choreographin Michèle Anne de Mey bezieht in „Phlegmatic Summer“ das Phlegmatische nicht auf eine einzelne Person, sondern macht eine phlegmatische Grundhaltung, d.h. eine gesellschaftliche Abstumpfung, angesichts eines nicht enden wollenden Flüchtlingsproblems aus. Auf einer Videowand glitzern Sonnenfunken über dem Meer betörend schön, dann wieder sieht man Wellen und hört das Meer rauschen. Die Aufführung von Vivaldis „Sommer“ wird immer wieder unterbrochen, um diese Töne oder Gespräche von Kindern und Erwachsenen einzuspielen. Oft stehen die Tänzer*innen als Haufen dicht gedrängt, berühren sacht einander, bewegen sich in einer Welle. Einige liegen im Haufen am Boden, wie vom Meer angespült.
Vom Besinnlichen geht es über in das Feurige. Während Michèle Anne de Mey mehr assoziativ mit dem ihr gesetzten Thema umging, hat Demis Volpi in „Sanguinic: con brio“ den Gemütszustand expressiv zum Ausdruck gebracht. Das Stück eröffnet dynamisch mit Jörg Widmanns Musik „con brio“. Dazu hat Demis Volpi für acht Tänzer*innen lebhafte Sequenzen, mal solistisch, mal in kurzen Pas de deux gefunden, die mitreißen. Die schnellen Handbewegungen mit geöffneten Fingern der Tänzer*innen zur „Clapping Music“ von Steve Reich am Ende des Stückes scheinen Fünkchen zu sprühen, sie lassen an Feuerreifen denken.
Choleriker werden nicht gern gesehen, besonders Frauen sollten sich hüten in der Öffentlichkeit „auszuticken“, weil ein Kontrollverlust ihnen nicht zugestanden wird. In Hélène Blackburns „Choleric“ macht der Anblick wütender Menschen endlich wieder Spaß. Emotion pur. Kraftvoll, energisch, herausfordernd, stampfend, funkelnder Blick, so ziehen sie ihre Bahnen über die Bühne, einzeln, aber auch im Gleichschritt.
John Neumeier nimmt sich in „from time to time” der Melancholie an. Zu “The dangling conversation“ von Simon & Garfunkel und Schuberts Klaviersonate in B-Dur blickt er wehmütig und sehnsüchtig auf das in der Vergangenheit Erlebte, gibt der Trauer um das unwiderruflich Verlorene Raum. Erinnerungen scheinen auf. Hinter einem Gazeparavent sitzen Freunde/Familienmitglieder bewegungslos, wie festgefroren. Augenblicke, Szenen, die in der Erinnerung haften geblieben sind, wie Standbilder. Dann wieder wird das Erlebte ganz lebendig, drängt sich in die Gegenwart.
Vier Temperamente und fünf unterschiedliche Sichtweisen darauf, ein beindruckender, funkelnder Abend - mehr als beachtlich getanzt-, der beim Publikum große Resonanz hervorrief.
Die vier Temperamente
Uraufführung am 20. November 1946, Ballet Society, Central High School of Needle Trades, New York
Choreographie: George Balanchine
Musikalische Leitung: Péter Halász
Musik: Paul Hindemith
Kostüme: Kurt Seligmann
Licht: Jean Rosenthal
Einstudierung: Nanette Glushak
Klavier: Alina Bercu
Erstes Thema: Clara Nougué-Cazenave, Niklas Jendrics
Zweites Thema: Miquel Martínez Pedro, Elisabeth Vincenti
Drittes Thema: Charlotte Kragh, Nelson López Garlo
Erste Variation Melancholisch
Rashaen Arts, Doris Becker, Emilia Peredo Aguirre, Wun Sze Chan, Mariana Dias, Neshama Nashman, Paula Alves
Zweite Variation Sanguinisch
Futaba Ishizaki, Daniele Bonelli, Paula Alves, Virginia Segarra Vidal, Lara Delfino, So-Yeon Kim-von der Beck
Dritte Variation Phlegmatisch
Gustavo Carvalho, Svetlana Bednenko, Rose Nougué-Cazenave, Courtney Skalnik, Norma Magalhães
Vierte Variation Cholerisch
Maria Luisa Castillo Yoshida
Phlegmatic Summer
Choreographie: Michèle Anne de Mey
Musikalische Leitung: Péter Halász
Bühne: Michèle Anne de Mey
Kostüme: Stefanie C. Salm
Licht: Volker Weinhart
Dramaturgie: Maurice Lenhard
Solovioline: Dragos Manza
Tänzer*innen
Mariana Dias, Norma Magalhães, Neshama Nashman, Emilia Peredo Aguirre, Virginia Segarra Vidal, Marié Shimada, Rubén Cabaleiro Campo, Philip Handschin, Evan L'Hirondelle, Miquel Martínez Pedro, Julio Morel, James Nix, Daniel Smith
Sanguinic: con brio
Choreographie: Demis Volpi
Musikalische Leitung: Péter Halász
Kostüme: Stefanie C. Salm
Licht: Volker Weinhart
Dramaturgie: Carmen Kovacs
Perkussion: Thomas Steimer, Dirk Neuner
Tänzer*innen
Paula Alves, Doris Becker, Svetlana Bednenko, Daniele Bonelli, Tommaso Calcia, Niklas Jendrics, Rose Nougué-Cazenave, Damián Torío
Choleric
Choreographie / Bühne / Kostüme: Hélène Blackburn
Licht: Emmanuel Landry
Dramaturgie: Maurice Lenhard
Tänzer*innen
Maria Luisa Castillo Yoshida, Charlotte Kragh, Clara Nougué-Cazenave, Elisabeth Vincenti, Tommaso Calcia, Gustavo Carvalho, Orazio Di Bella, Pedro Maricato, Dukin Seo, Lara Delfino, Courtney Skalnik
from time to time
Choreographie / Bühne / Kostüme / Licht: John Neumeier
Klavier: Alina Bercu
Tänzer*innen
Julio Morel, Rashaen Arts, Simone Messmer, Orazio Di Bella, Evan L'Hirondelle, Futaba Ishizaki
Premiere Fr 03.06.2022, 19:30, Opernhaus Düsseldorf