Außerhalb der bekannten Fernsehkrimis und Krimibücher hat sich ein Format etabliert, das sich mit True Crime, also real geschehenen Gewaltverbrechen, beschäftigt. Neben der ursprünglichen Suche nach dem Täter und seinen Tatmotiven sowie dem versprochenen Nervenkitzel bei der Tatdarstellung, scheint sich bei einer Dokumentationssendung offenbar der Fokus mehr auf den Wahrheitsgehalt zu richten. In Podcasts kommen aber auch jene zu Wort, die nicht unmittelbar beteiligt waren. Dass sich nun ein Ballettabend mit diesem Thema beschäftigt, erscheint, trotz der Popularität dieses Genres, ungewöhnlich. Umso erstaunlicher, dass es derzeit in der Deutschen Oper am Rhein gleich drei Uraufführungen dazu zu sehen gibt.
In Andrey Kaydanovskiys „Chalk“ kreist alles um eine Kreidezeichnung am Boden, die üblicherweise den Fundort und die Lage eines Opfers kennzeichnet. Das Opfer selbst sieht man nicht. Der Tatort ist ebenfalls mysteriös: sieht man doch nur die obere Hälfte eines Wohnzimmers: den Schirm einer Stehleuchte und Teile eines Sofas. In vier Kapiteln versuchen Spurensicherer und Ermittler zu eruieren, was geschehen sein könnte. Die Dame von der KTU kann man anhand ihrer blauen Gummihandschuhe identifizieren. Zunächst pantomimisch, roboterhaft begeben sich die Suchenden auf die Suche nach dem Tathergang und dem Mörder, verzetteln sich, Widersprüche treten auf, später dann fühlen sie sich in die Rolle des Opfers ein, lassen sich im Nachstellen in den Kreidebereich fallen. Eine Lösung scheint es nicht zu geben. Am Ende hebt sich der Bühnenhintergrund und man schaut auf kostümierte Figuren und die baumelnden Beine eines Gehenkten. Aber das ist ein anderes Rätsel, das sich erst nach der Pause deuten lässt.
In Hege Haagenruds Choreographie „The Bystanders“ tauchen diese Gestalten in ihren bodenlangen, aufgebauschten Kostümen mit weißen Hauben und barockähnlichen Perücken wieder auf. In einer von ihr eigens konzipierten Sprache verständigen sie sich mit raumgreifenden Gesten. Vom Band ertönt dazu eine Collage von englischen Texten, die sich aus unterschiedlichen Stimmen zusammensetzen, aus Telefongesprächen, Videos, Radiosendungen etc., und teilweise leider, da genuschelt, unverständlich sind. Heraushören lässt sich, das Haagenrud sich mit dem Effekt beschäftigt, dass bei einer großen Anzahl von Zuschauenden eine Diffusion entsteht, keiner hilft, weil unklar ist, wer tätig werden soll. Nach und nach legen die Bystanders ihre Hüllen ab und zeigen sich in ihren fleischfarbenen Trikots verletzlich. Ein Hinweis darauf, dass aus nur Zuschauenden auch irgendwann Opfer werden können? Ein Stück jedenfalls, das den Zuschauer etwas ratlos zurück lässt und vom Publikum nur mit höflichem Applaus goutiert wurde.
Im Käfig aus "Bystanders" sitzt in Demis Volpis „Non-Fiction Études“ der Pianist Alexandr Ivanov und spielt aus Sergei Rachmaninow "Études Tableux" op. 33. Einzelne Episoden aus dem Leben des schillernden amerikanischen Romanautors Truman Capote stellen die Tanzenden in blutroten Kostümen dar. Bezeichnend ist, dass vielfach auf Spitze getanzt wird, was hier auf Capotes Obsessionen, Dandytum und Skrupellosigkeit zu verweisen scheint. Grundlage für Volpis Choreographie ist Truman Capotes Roman "Kaltblütig ("In Cold Blood"), der 1966 erschien und auf Tatsachen beruhte, die er lange recherchiert hatte. Er wurde damit quasi zum Begründer des Genre "True Crime". Der Roman handelt von einem vierfachen Mord und schildert die Lebensläufe zweier Mörder. Die reklamierte Objektivität der Darstellung ist allerdings durch die Intensität der Beziehung Capotes zu einem der Mörder in Frage gestellt.
Bei den drei sehr unterschiedlichen stilistischen und inhaltlichen Herangehensweisen an das Thema "True Crime" bleibt auch weiterhin die Frage offen, was Wahrheit ist, ob es sie überhaupt gibt, inwieweit sie durch subjektive Wahrnehmung beeinflusst ist. Die Zuschauer dürfen sich jedenfalls weiterhin mit diesem Denkanstoß auseinandersetzen. Demis Volpis Choreographie war dabei am zugänglichsten und fand daher den meisten Zuspruch.
Choreographie: Demis Volpi, Hege Haagenrud, Andrey Kaydanovskiy
Sounddesign: Christoph Kirschfink
Bühne: Sebastian Hannak
Kostüme: Bregje van Balen
Licht: Christian Kass
Dramaturgie: Julia Schinke
TänzerInnen
Camilla Agraso, Paula Alves, Marta Andreitsiv, Joaquin Angelucci, Daniele Bonelli, Jack Bruce/Vinícius Vieira, Maria Luisa Castillo Yoshida, Lara Delfino, Orazio Di Bella/Gustavo Carvalho/Kauan Soares, Philip Handschin, Futaba Ishizaki, Lotte James, Evan L'Hirondelle, Samuel López Legaspi, Nelson López Garlo, Norma Magalhães, Pedro Maricato, Miquel Martínez Pedro/Dukin Seo, Clara Nougué-Cazenave/Sara Giovanelli, Emilia Peredo Aguirre/Charlotte Kragh, Ako Sago, Courtney Skalnik, Damián Torío, Elisabeth Vincenti/Wun Sze Chan, Imo