Die Jury hat die 10 bemerkenswertesten deutschsprachigen Inszenierungen für das Theatertreffen (5. – 20. Mai 2007) nominiert.
Die sieben Theaterkritikerinnen und -kritiker haben sich auf folgende Inszenierungen geeinigt:
Sebastian Nübling / Theater Basel | „Dido und Aeneas“ von Purcell / Marlowe |
Michael Thalheimer / Deutsches Theater Berlin | „Die Orestie“ von Aischylos |
Jan Bosse / Maxim Gorki Theater Berlin | „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe |
Andreas Kriegenburg / Thalia Theater, Hamburg | „Die schmutzigen Hände“ von Sartre |
Dimiter Gotscheff / Thalia Theater, Hamburg / Salzburger Festspiele | „Der Tartuffe“ nach Molière |
Nicolas Stemann / Thalia Theater, Hamburg | „Ulrike Maria Stuart“ von Jelinek |
Andreas Kriegenburg / Münchner Kammerspiele | „Drei Schwestern“ von Tschechow |
Tilmann Köhler / Deutsches Nationaltheater Weimar | „Krankheit der Jugend“ von Bruckner |
Jan Bosse / Burgtheater Wien | „Viel Lärm um nichts“ von Shakespeare |
Jürgen Gosch / Schauspielhaus Zürich | „Der Gott des Gemetzels“ von Reza |
Zur Jury des Theatertreffens gehören in diesem Jahr Barbara Burckhardt, Karin Cerny, Christine Dössel, Hartmut Krug, Peter Michalzik, Peter Müller und Andreas Wilink.
Eröffnet wird das Theatertreffen am Samstag, den 5. Mai 2007, im Haus der Berliner Festspiele. Der schriftliche Vorverkauf mit Bestellcoupon beginnt voraussichtlich Ende März. Der Bestellcoupon wird bei Interesse vom Kartenbüro der Berliner Festspiele zugeschickt: Tel. (030) 254 89-100, Fax -230,
E-Mail: tickets@berlinerfestspiele.de
Die seit 1996 bestehende Zusammenarbeit mit 3sat und dem ZDFtheaterkanal wird auch in diesem Jahr fortgesetzt. Bereits zum elften Mal wird der 3sat-Preis an einen Künstler, der an einer Inszenierung des Theatertreffens mitwirkt, verliehen. Das Theatertreffen wird seit 2004 von der Kulturstiftung des Bundes gefördert.
Theater Basel
Dido und Aeneas
von Henry Purcell / Christopher Marlowe
Regie Sebastian Nübling
Premiere 7. April 2006
Sebastian Nüblings Abschiedsinszenierung nach zehn Jahren Intendanz Michael Schindhelm kreuzt die Zeiten und Stile, Renaissance und Gegenwart, Barock- und Popmusik. Zum einen ist sie große Oper, ein opulentes Fest der Töne von Henry Purcell, mit der Schola Cantorum Basilensis und der Sopranistin Ulrike
Bartusch, welche die Arien der Dido singt. Zum zweiten ist sie packendes Liebesdrama, mit handfestem Text („Lösch mir die Glut!“) des Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe und einer großartigen
Sandra Hüller als Dido, die sich der göttlichen Staatsräson opfern und den geliebten Emigranten Aeneas am Ende ziehen lassen muss. Und schließlich, wenn das Pathos sich doch selbständig zu machen droht, erinnert die Inszenierung daran, dass die Liebe durch den Magen geht und lässt auf der Bühne wirklich ein viergängiges Menu kochen. Crossover, in den letzten Jahren oft unsinnig strapaziert, erhält bei Nübling neuen Sinn.
Deutsches Theater Berlin
Die Orestie von Aischylos
Regie Michael Thalheimer
Premiere 23. September 2006
Eine Hardcore-„Orestie“. Ein Sudelbad im Mythos. Erbarmungslos, drastisch, radikal. Blut ist die große, alles bestimmende Chiffre, in der Michael Thalheimer die Tragödie des Aischylos bündelt. Blut fließt in Strömen. Blut verschmiert Hände und Körper, tropft ins Parkett und hinterlässt Flecken auf Olaf Altmanns
Sperrholzwand. Die Bühne ist vernagelt: das verschlossene Paradies. Davor opfern die Menschen ihrem Hass wie auf einem Hochaltar, ganz nah am Zuschauer. 100 Minuten Unausweichlichkeit. Thalheimer erzählt in seiner imposanten Kurzfassung des Stücks, wie sich die Blutspur der Menschheitsgeschichte immer weiter zieht, in einer endlosen Kettenreaktion aus Rache und Gewalt. „Tun – Leiden – Lernen!“, skandiert leitmotivisch der 40-köpfige Chor, der das Geschehen vom zweiten Rang aus mit Donnerkraft
anheizt und kommentiert. Doch es ist kein Lernprozess in Sicht: Der dritte Teil der „Orestie“ („Die Eumeniden“) ist bei Thalheimer konsequenterweise gestrichen – und damit auch der Glaube an die Demokratie als Lösungsmodell. Es gibt keine Gnade von oben. Der Himmel ist leer. Am Ende kauert Orestes mutterseelenallein auf dem Boden, unerlöst. Bildnis des modernen Menschen.
Maxim Gorki Theater Berlin
Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe
Regie Jan Bosse
Premiere 29. September 2006
ICH könnte mit Großbuchstaben überm eisernen Vorhang stehen, vor dem sich Goethes junger Werther die Liebespein von der Seele redet. ICH ist das erste Wort, mit dem Hans Löw in der Titelrolle die Bühne betritt: ein egomanischer Narziss, ein angeödeter Lebenssüchtiger, der sich in die unerfüllbare Liebe zu
Fritzi Haberlandts Lotte wie in ein utopisches Selbstverwirklichungsprojekt stürzt. Da erscheint Lottes langweiliger Verlobter (Ronald Kukulies) plötzlich fast wie ein lebbares Gegenmodell. Pragmatismus, Larmoyanz und Höhenflug – Jan Bosse hat Goethes Text als elegante Pop-Literatur inszeniert, die direkt
ins leere Herz der Gegenwart zielt. Und großes, junges Schauspielertheater ist.
Thalia Theater, Hamburg
Die schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre
Regie Andreas Kriegenburg
Premiere 22. April 2006
Wer geglaubt hatte, aus Sartres philosophischem Diskursstück zwischen revolutionärer Moral und revolutionärer Tat ließen sich im traumlos materialistischen Jetzt keine Funken mehr schlagen, den belehrt Andreas Kriegenburg eines Besseren. Seine Inszenierung, an der Oberfläche virtuoses Entertainment und rasanter Slapstick, kreist trudelnd um die Utopie der Tat wie um eine Leerstelle, die gefüllt werden möchte – nur wie? Bürgersohn Hugo (Hans Löw) ist ein zappelndes Kind, unbegabt zur Tat wie zur Liebe, Judith
Hofmann als seine Frau Jessica eine hinreißend kluge Spielerin, die doch als einzige jedes Spiel durchschaut. Und Jörg Poses Parteifunktionär Hoederer ein machtbewusst utopieloser Berufspolitiker von Schröder-Format. An der Schnittstelle zwischen Ernüchterung und Sehnsucht beschwören Kriegenburg
und sein umwerfendes Ensemble mit den Mitteln des Spiels die Dringlichkeit von Ernst.
Thalia Theater, Hamburg / Salzburger Festspiele
Der Tartuffe nach Molière
Regie Dimiter Gotscheff
Premiere Salzburg 29. Juli 2006
Premiere Hamburg 27. September 2006
Gotscheff schreibt in seinem grimmig finsteren Kehraus Molières Komödie mit viel Heiner Müller um zum Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt. Nach einem fulminanten Konfetti- und Luftschlangen-Feuerwerk (Bühne Katrin Brack), in dem ein blasiertes Neo-Rokoko aus allen Rohren schießt und als Spaßgesellschaft den Absolutismus des Ennui feiert, zeigt sich der Tartuffe des Norman Hacker als kalt agierender Prophet, verkündend den Hass und den Aufstand. Ein Extremist und Fundamentalist, Umverteiler und Umwerter, der in der moderaten Manier des massensuggestiven TV-Predigers auftritt und sich kleidet in die Maske der Revolution. Seine Opfer-Lämmer weidet er nicht, sondern führt die Blökenden
auf die Schlachtbank. Er hat nicht frohe Botschaft, sondern Tage des Zorns zu verkünden. Und Orgon (Peter Jordan) nimmt diese Offerte an und verinnerlicht sie wie eine Befreiungs-Theologie, als sei es der absolute Kick, das Asketen- und Flagellanten-Gewand anzuziehen.
Thalia Theater, Hamburg
Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie Nicolas Stemann
Premiere 28. Oktober 2006
Elfriede Jelinek schreibt weiter unsere Mentalitätsgeschichte, „Ulrike Maria Stuart“ projiziert auf die Frauenkonstellation aus Schillers „Maria Stuart“, Maria gegen Elisabeth, eine Auseinandersetzung zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Das Volk, sagt Gudrun, will uns gar nicht, Ulrike aber kann das Volk nicht aufgeben, gemeinsam stecken sie in der Sackgasse jeglicher politischer Repräsentation. Und Jelinek rennt gegen das verschlossene Tor, hinter dem mal ein anderes Land, die Utopie, gelegen hat. Das Krachen des Eisens ist die Lust ihrer Sprache. Nicolas Stemann macht daraus die krachendste Polit-Revue seit langem, ein großes Terror-Potpourri, aber auch ein wilder Klamauk über die Berliner Mediendemokratie. Genau austariert, durch Phasen der Depression, „ich seh nur noch Tote“, davor bewahrt, zum Entertainment zu verkommen. Das Stück über die Aporien politischen Engagements, das Stück zur immer wieder neuen RAF-Debatte, über die Gespenster, die wir nicht loswerden, ob im Knast
oder begnadigt, auf der Bühne oder in unseren Köpfen.
Münchner Kammerspiele
Drei Schwestern von Anton Tschechow
Regie Andreas Kriegenburg
Premiere 26. November 2006
So hat man Tschechows „Drei Schwestern“ noch nie gesehen: so traumverloren und poetisch, so offen, abstrakt und verspielt. Kriegenburg inszeniert das Drama in starken theatralischen Bildern als Kunst-Stück fernab jeglicher Tschechow-Tradition. Es herrscht eine helle, flirrende, schwebende Atmosphäre wie sie der Erinnerung an ferne Kindheitstage anhaftet, deshalb sind die Bilder auch mal verschwommen oder grell überbelichtet. Alles wird als Zitat gesprochen, wie schon einmal erlebt. Verfremdung mit wunderbaren
Puppenmasken – großen, traurigen Kindsköpfen – entkleidet die Figuren aller Psychologie, auch ihrer Identität, aber sie schafft ihnen dafür einen ganz neuen Spiel-, Empfindungs- und Assoziationsraum, wie nur das Theater es kann. Bilder einer entrückten Poesie stehen neben überdrehten Ausbrüchen und traurigen Slapstick-Einlagen, wie man sie aus dem Kriegenburg-Theater kennt. Es ist ein Tschechow- Taumel. Russendisco und Totentanz. Bezwingend, befremdlich, betörend.
Deutsches Nationaltheater Weimar
Krankheit der Jugend von Ferdinand Bruckner
Regie Tilmann Köhler
Premiere 13. Juni 2006
Eine Inszenierung wie eine Sektion: Das Publikum schaut von vier Seiten hinab auf eine nackte Bühne, die Seziersaal, Boxarena und Druckkammer ist. Sechs Jugendliche auf der Suche nach Zielen und Werten, nach Erfolg, Karriere, Sex und Liebe. Selbstfindungssuche als Kampf gegen sich und die anderen.
Bruckners expressionistisch hochfahrende Darstellung einer nach dem 1.Weltkrieg desillusionierten und psychosozial deformierten Jugend wird in konzentrierter Version als Folie genommen, vor der sich die Suchbewegungen einer heutigen Jugend (auch mit live gespielten Tocotronic-Songs) entfalten. Das Spiel der sechs Schauspieler, wie ihr Regisseur Tilmann Köhler und Bruckners Figuren Mittzwanziger, wird geprägt von Rhythmus, Authentizität und nüchtern-kraftvoller Expressivität. Die Inszenierung schafft den Spagat zwischen 1926 und 2006: So wird Bruckners „Krankheit der Jugend“ in Weimar zu aufregend jungem und lebendigem Zeittheater.
Burgtheater, Wien
Viel Lärm um nichts von William Shakespeare
Regie Jan Bosse
Premiere 8. Dezember 2006
Wer Christiane von Poelnitz und Joachim Meyerhoff als Beatrice und Benedikt nicht gesehen hat, weiß nicht, zu welchen Späßen das Theater in der Lage ist. Die frischesten und lustigsten zwei Bühnenstunden, die zu haben sind. Kein Sinnüberschuss, kein Dramaturgenüberbau, keine Interpretationsanstrengung,
sondern Theater, das mit sich, seiner Erscheinung und dem Spaß, den es machen kann, vollkommen zufrieden ist. Das ist ja fast Anarchie! Mehr gute Laune gibt es jedenfalls nirgendwo zu kaufen. Und mehr hat der große Shakespeare mit seinem Lärm, den er um Nichts veranstalten ließ (außer vielleicht der Liebe), ja auch nicht getan. Und genau da trifft diese unverschämte Aufführung dann doch ins Herz der Gegenwart: Tell me about love, dear.
Schauspielhaus Zürich
Der Gott des Gemetzels von Yasmina Reza
Uraufführung
Regie Jürgen Gosch
Premiere 2. Dezember 2006
In der bürgerlichen Welt der Yasmina Reza regiert der Code Civil. Vorläufig. Aber die zivilisatorische Außenhaut ist leicht abgeschürft, darunter pocht das rohe Fleisch: eine kleine oder auch letzte große Wahrheit. Zwar hat man schnell die Mechanik des Stücks durchschaut, in dem sich am Beispiel zweier Ehe- und Elternpaare und ihrer raufenden Söhne die Aufklärung über sich selbst aufklären könnte, aber das ändert nichts an der Raffinesse der Konstruktion, die für alle Beteiligten in die Entblößung und Selbstdemütigung führt. Deshalb sieht die Bühne am Ende auch aus wie in Goschs Düsseldorfer „Macbeth“: demoliert. Der common sense verwüstet. Rezas Konversationsstück erzählt nach allen Regeln
der Kunst der Komödie weniger vom Rückfall in die Barbarei, als davon, dass kein Schutzmechanismus wirkt, nichts mehr gilt und funktioniert. Nicht die Solidarität des Geschlechts und Identifikation mit dem Ehepartner, nicht Kulturleistung, soziales Engagement und politisch korrektes Verhalten, nicht die Rhetorik der Besorgnis und Verbindlichkeit. Gosch lenkt das Katastrophen-Quartett mit unnachgiebiger Genauigkeit, leichtsinnig intelligent und schamlos komisch, verhält sich nonchalant gegenüber dem Text und seinen anthropologischen Konstanten und gelassen schnöde, weil es eh nichts zu demaskieren gibt.