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3. Deutsch-Französische Autorentage im Staatstheater Karlsruhe

20. bis 22. April 2007

Blickwechsel III - Regards croisés III

In Zusammenarbeit mit dem Centre Culturel Franco-Allemand Karlsruhe und dem Bureau du Théâtre et de la Danse, Berlin.

 

Thema der 3. Deutsch-französischen Autorentage 2007 ist „Neue Armut“ im weitesten Sinn. Die Schere zwischen arm und reich geht in Frankreich wie in Deutschland immer weiter auseinander.

 

Eine breite Mittelschicht ist verunsichert und fürchtet den sozialen Abstieg; die Kampfzone verläuft zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen. Moralische Verwahrlosung, Mangel an Bildung und ein Erstarken rassistischer Kräfte sind ebenso die Folge wie eine Zerrüttung von Ge-schlechterbeziehungen und Familienstrukturen. Die Globalisierung lässt bestimmte Weltregionen erblühen und stürzt andere in Armut. Migration, Kriege und der Einsturz von Zivilgesellschaften sind die Folge.

 

Das Schauspiel des Badischen Staatstheaters hat zu diesem Themenkomplex Autoren ausgewählt, die sich mit dem Thema „Armut“ im physischen oder psychischen Sinn auseinandersetzen, die Arbeitslosigkeit, geistige Verarmung, Migration und in letzter Konsequenz den Krieg thematisieren.

 

Bei vier Autoren steht das Thema der „sozialen Ungleichheit“ im Vordergrund. Ihre Figuren verlieren den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft. Sie leben an den Rändern der Großstädte, sind ar-beitslos, verarmen. Sie geraten in einen Teufelskreis: Mit der Bildung fehlt ihnen die Kompetenz für ihren Aufstieg aus der Unmündigkeit. Erhöhte Gewalt- und Kriminalitätsbereitschaft sind die Folge.

 

„Er“ und „Sie“ in Ulf Schmidts Stück HEIMSPIEL zählen zu den Überflüssigen und Entbehrlichen, zu denen, die offenbar nicht gebraucht werden und deshalb von jeglicher gesellschaftlicher Bindung abgeschnitten scheinen. Das Paar, alkoholkrank und arbeitslos, ist weitgehend verwahrlost. Hin- und hergerissen zwi-schen gegenseitigem Hass und Abhängigkeit zerreiben sie sich im täglichen unbarmherzigen Kleinkrieg. Doch dann treten wie in einer griechischen Tragödie die Götter auf den Plan. Kraft ihrer Macht ändern sie die sozialen Verhältnisse. Die Demütigungen und Erniedrigungen, die sie einander zufügen, bekommen ein neues Gesicht.

 

Sie leben am Rand der Gesellschaft. Sie sind arm, unflätig, bösartig und sie sind rassistisch. Kurz: Das Stück FAMILIENPORTRÄT gewährt Einblicke in eine wahrhaft unausstehliche Familie. Mutter füllt mehr schlecht als recht durch Putzen die Haushaltskasse, ihr ältester Sohn spielt ständig mit dem Gedanken an Selbstmord, der Freund ihrer Tochter ist „allergisch“ gegen jegliche Form von Arbeit. Und schließlich bringt der offene Rassismus gegenüber einer Araberin das Fass zum Überlaufen. Doch dann findet Sohn Albert Arbeit in der Leichenhalle. Plötzlich steht die Familie vor einer unerwarteten Perspektive – Albert entführt einen Leichnam und fordert Lösegeld.

Aber nichts ist unter der schwarzhumorigen Feder der Autorin Denise Bonal wirklich traurig. Denn bewaff-net mit Übermut und Galgenhumor bewahren sich die Figuren eine gehörige Portion Überlebensinstinkt, auch dann noch, wenn die Lage zunehmend aussichtsloser wird.

 

Erntezeit auf dem von der (westdeutschen) Familie Janssen erworbenen Spargelhof im branden-burgischen Hinterland. Zu diesem Zweck kommen neben den beiden polnischen Saisonarbeitern - Polen sind bereits seit Jahren eine sichere Stütze des Betriebs - zwei arbeitslose Deutsche, die von der Agentur für Arbeit zum Spargelstechen abgestellt worden sind. Im gedrückten Klima des von der Pleite bedrohten Betriebs sind Spannungen zwischen den ungleichen Arbeitern unvermeidlich, zumal vor dem Hoftor auch rechtsradikale Parolen laut werden. Im Stück SPARGELZEIT von Lothar Kittstein scheint der übliche Ost-West-Konflikt vorprogrammiert. Doch es kommt anders als man denkt.

 

Auf Papa hat keiner mehr gewartet. Vor zehn Jahren hat er sich sang- und klanglos aus dem Staub ge-macht. Jetzt, da schon keiner mehr an ihn denkt, taucht er plötzlich wieder auf, will bewundert, gehätschelt und respektiert werden. Aber wer liebt schon Papa? Wer kann behaupten ihn wirklich zu brauchen? Erfolg-reich und vermögend soll er in der Zwischenzeit geworden sein. Jetzt will er seiner Familie ein besseres Leben bieten, sie aus der bescheidenen Pariser Vorstadtwohnung herausholen. Doch die Mutter hat längst einen zuverlässigeren Partner und die Tochter erkennt ihren Vater nicht.

In ihrem Stück PAPA MUSS ESSEN versammelt die Autorin jene Unzufriedenen, Erfolglosen und zu kurz Gekommenen, wie sie der galoppierende Kapitalismus in der westlichen Welt immer öfter hervorbringt. Marie NDiaye macht der westlichen Gesellschaft den Prozess, in der die Auflösung der Familie mit der Entmenschlichung einhergeht.

 

Als Illegale werden sie von den Behörden bezeichnet: Es sind Menschen ohne Papiere, Menschen aus allen Teilen der Erde, die – angelockt von dem Bild eines reichen Landes – ohne jeden Schutz, ohne ein-forderbare Rechte, ohne den Beweis ihrer eigenen Existenz, täglich ums Überleben kämpfen. Das Stück von Virginie Thirion ZÉPHIRA. DIE FÜSSE IM STAUB erzählt die Geschichte einer in Illegalität lebenden Frau. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlässt sie ihr afrikanisches Heimatland und gelangt nach Europa. Sie verliebt sich, bekommt Kinder, erlebt Familienglück. Doch der Geliebte verlässt sie. Der Sturz in den Abgrund scheint bodenlos. Mitten im „Schlaraffenland“ lebt sie von nun an im Dunkeln, namenlos und ohne Recht. Aber Zéphira kämpft wie ihre antike Schwester Medea um ihre Kinder - bis zum Äußersten.

 

Es herrscht SCHONZEIT in Andreas Jungwirths neuem Stück. Zur Aufzucht seiner Jungen, ist dem Wolf im Wald eine Verschnaufpause gegönnt. Der Waffenstillstand gilt auch für die Menschen im Dorf. Der Jä-ger nimmt sich eine Auszeit von der Jagd und macht sich stattdessen auf die Balz um eine Dorfschönheit. Deren Tochter begibt sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater und kommt dabei einem Ge-heimnis auf die Spur. Ist er wirklich im Wald geblieben, wie behauptet wird? Oder ist es nur ein Märchen, das man ihr auftischt? Der angebliche Frieden im Dorf erweist sich als sehr fragil. Wahrheit und Lüge ver-mischen sich. Verdrängtes gelangt an die Oberflächen, gewaltvolle Gefühle und Sehnsüchte werden ent-fesselt. Schließlich macht sich das Mädchen auf den Weg zur ihrer Großmutter und durchquert den Wald - allein!

Der Autor greift das Märchen vom Rotkäppchen auf, verlegt es in die Moderne und erzählt dabei in einer eigenwillig schönen Sprache über das Erwachsenwerden und doch unerwachsen bleiben wollen und über verdrängte Gefühle, verbotene Wünsche und verachtete Triebe, die letztlich auch die Defizite einer über-stylten Leistungsgesellschaft bloßlegen.

 

Mohamed Kacimis Stück HEILGES LAND führt in ein durch Krieg, Gewalt und religiösem Fanatismus ver-branntes Krisengebiet. Es ist eine Stadt im Belagerungszustand. Weit entfernt von jeglichem Pathos erzählt Mohamed Kacimi die Geschichte einer Familie und deren Nachbarn als eine zeitgenössische Tragödie. Das Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ herrscht gnadenlos, bar jeglicher Vernunft und Humanität. Bomben, Gewehrsalven, militärische Strafaktionen und demütigende Übergriffe gehören zum Alltag. Den-noch leuchten in den Figuren Spuren von Menschlichkeit und Menschenwürde auf, als kleine Funken, die die Hoffnung auf ein Ende der Gewaltspirale nicht ganz erkalten lassen. Der Autor hat mit Scharfblick er-kannt und das dramaturgisch und szenisch spannend auf den Punkt gebracht, was auch uns in Europa seit dem 11. September umtreibt, und legt sich mit seiner Fabel richtigerweise - ohne persönlich Stellung zu beziehen - sowohl mit der Hisbollah/Hamas als auch mit den Israelis an.

 

In einem Hangar, der den drei Terroristen, dem Amerikaner Thirsty, dem Italiener Thirdman und der Spa-nierin Seconda als Unterkunft und Versteck dient, haben sie im Keller ein paar Geiseln untergebracht, durch deren Entführung die kleine Zelle naiv auf Medienaufmerksamkeit und ihr Coming out als Topterro-risten hofft. Aber es kommt anders. Der Wärter hat ohne Auftrag eine der Geiseln erschossen und will aus dem Mord Kapital schlagen. Die Zelle radikalisiert sich und zusehends gerät alles außer Kontrolle.

Bilder von Tod und Krieg gehören zum Medienalltag und erreichen die häuslichen Bildschirme zu den bes-ten Sendezeiten. Volker Lüdecke entwirft in seinem ebenso brisanten wie provokanten Stück TOPTER-RORISTEN THINK TANK wie sich „Medien“ zu Handlagern einer terroristischen Agitation instrumentalisie-ren lassen, um letztlich im „Kampf um die Bilder“ ein sensationslüsternes Publikum zu bedienen.

 

Umrahmt werden die Lesungen mit einer Vorstellung der Deutschsprachigen Erstaufführung von „HELDEN“, einem Stück des französischen Autors Gérald Sibleyras, sowie spannenden Diskussio-nen, Kulinarischem und viel Musik. Das musikalische Kabarett „PIGOR & EICHHORN“ nimmt sich – nicht immer politisch korrekt – die brisantesten Themen vor.

 

Unter dem Motto „NUR WER IM WOHLSTAND LEBT, LEBT ANGENEHM“ ist am 21. April eine Podi-umsdiskussion geplant.

Teilnehmer: Jens Bisky (Redakteur Süddeutsche Zeitung, Buchautor), Prof. Dr. Engler (Rektor der „Hoch-schule für Schauspielkunst Ernst Busch“ (HdK) Berlin, Bernard Fleury (Intendant des Theaters Le-Maillon Strassburg), Jean-Baptiste Joly (Direktor Akademie Schloss Solitude), Prof. Roland Pfefferkorn (Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, soziale Praktiken und Entwicklung, Universität Marc Bloch, Straßburg)

Moderation: Prof. Dr. Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Leiter der Literarischen Gesellschaft Karlsruhe und des Museums für Literatur am Oberrhein Karlsruhe, Privatdozent an der Universität Karlsruhe)

 

Am Ende der Autorentage Abschlussdiskussion mit den Autoren.

 

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