Lieber Leser! Stellen Sie sich vor, Sie sind ein aufstrebender Himmelsforscher, verheiratet mit einer tüchtigen Juristin, Vater eines sechsjährigen Jungen, der zur Einschlafzeit besonders ausdauernd quengelt. Auf morgen abend zum Essen haben Sie einen bedeutenden Wissenschaftler eingeladen, der Ihnen für Ihre Karriere nützlich sein kann. Sie brauchen seine Protektion, denn Sie haben seit drei Jahren nichts veröffentlicht, aber nun endlich doch einen wissenschaftlichen Artikel verfasst, der Ihrer Meinung nach eine sensationelle Neuentdeckung enthält.
Der Gast erscheint samt Gemahlin. Aber leider schon heute statt morgen, wegen eines Terminversehens. Grauenhaft. Sie sind nicht vorbereitet, Ihre Angetraute ist bereits im Négligé, das Kind schreit aus dem Kinderzimmer, Sie haben kaum etwas Essbares im Haus. Es ist superpeinlich. Ausserdem eröffnet Ihnen der berühmte Wissenschaftler, just heute sei in einer Fachzeitschrift der Artikel eines südamerikanischen Kollegen erschienen, der dieselben Ergebnisse wie die Ihren beinhaltet und Ihre jahrelange Arbeit somit zunichte macht. Sie fühlen sich verloren im Weltall. Wie immer Sie und die anderen sich heute noch abmühen, welche Gespräche Sie aus sich herausquälen, wieviel Weisswein Sie auf leeren Magen trinken, der Abend ist nur als Katastrophe vorstellbar.
Das ist die Quintessenz von Yasmina Rezas Erfolgsstück "Drei Mal Leben". Es wird zurzeit auf 28 deutschen Bühnen gespielt und führt die alkoholisierte Trostlosigkeit geistreich und raffiniert in drei verschiedenen und doch ähnlichen Ablaufmöglichkeiten vor. Der Schluss zeigt jedesmal die davonschreitende Koryphäe mit torkelnder Gattin und die konsterniert zurückbleibenden Gastgeber. Vorhang.
Yasmina Reza kann als momentan erfolgreichste Theateraurtorin der Welt bezeichnet werden. Die 43-jährige Französin ist ein echtes Kind unserer Migrationsgesellschaft, Tochter eines Usbeken und einer Ungarin. 1994 kam ihr Stück "Kunst" heraus und wurde auf Anhieb ein Welterfolg. Es handelt von drei Pariser Upper-class-Typen. Ihre labile Männerfreundschaft kommt plötzlich ins Wanken, weil einer von ihnen ein Gemälde kauft, das einfarbig weiss ist und sonst garnichts, worüber sie in hitzige Debatten geraten. Die Zuschauer geraten regelmässig in Entzücken über die simple aber seit Eulenspiegel effektvolle Metapher zum angeblich heutigen Kunstmarkt. Das Stück wurde schon in 36 Sprachen übersetzt.
Und auch "Drei Mal Leben" wird seit der glanzvollen Erstaufführung in Wien unter der Regie von Luc Bondy fleissig nachgespielt und bejubelt.
Yasmina Reza trimmt eine altbekannte Gattung auf zeitgeistigen Hochglanz. Das Boulevard-Stück. Ein Boulevardstück handelt gängige Themen ab, bestenfalls in kunstvollen Konversations- und Aktionsmustern, geht nie wirklich in die Tiefe aber auch nie übermässig in die Breite. Es plätschert immer im gesellschaftlich gehobenen Milieu. Männliches Konkurrenzdenken und vor allem das Liebäugeln mit dem Ehebruch spielen immer eine grosse Rolle. Am Ende haben alle ein paar Schrammen abbekommen, aber das Leben geht weiter wie gewohnt. Der Zuschauer kann sich in Schadenfreude baden, kann sich amüsieren, ein kleines bisschen nachsinnen und dann zufrieden nach Hause streben.
Die moderne Boulevard-Autorin befindet sich im augenzwinkernd-resignativen Einklang mit der Tatsache, dass das Leben mühsam ist, dass die Menschen mies und treulos sind, dass sie sich und einander nur unter Aufbietung aller Nervenkräfte ertragen, dass die gesellschaftliche Hackordnung zwar an Lächerlichkeit nicht zu überbieten aber unschlagbar bleibt. Wenn das alles zu einem würzigen Theatercocktail gemixt wird, ist der Erfolg nicht mehr aufzuhalten.
Die Düsseldorfer Aufführung wurde von der französischen Regisseurin Dominique Valentin gekonnt inszeniert. Das Bühnenbild von Klaus Baumeister zeigt quasi das Skelett eines bildungsbürgerlichen Wohnzimmers, zwei lange knochenfarbene Sofas auf braunem Teppichboden, mit dem auch der niedrige quadratische Sofatisch überzogen ist. Die Wände schwarz.
Die vier Schauspieler fühlen sich offensichtlich auf diesem Präsentierteller in den vier Glanzrollen wohl, sie spielen inspiriert und genau.
Eva Spott brilliert als gescheite aber ratlose Ehefrau des unglücklichen Gastgebers. Sona Mac Donald gibt eine wunderbar selbstironische Version des uralten Rollenklischees "hübsches aber dummes Eheweibchen eines klugen Mannes". Klaus Rodewald verkörpert den düpierten Jungwissenschaftler. Und Max Volkert Martens als Spitzengelehrter spreizt sich wie ein ganzes Heer von Pfauen im Vollgefühl seiner geistigen und männlichen Attraktivität.
Ein gefundenes Theaterfressen.
Premiere 28. April 2001
Drei Mal Leben von Yasmina Reza
im Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus