Der israelische Choreograph Ohad Naharin startet sein "Decadance" betiteltes Stück mit der Hava Nagila adaptierenden Version von Dick Dale, die auch schon markant im Film "Pulp Fiction" erklang, zu dem sich 18 Tänzer und Tänzerinnen ekstatisch bewegen, um dann in skulpturalen Posen festzufrieren.
Aus dem Off ertönt eine Stimme die uns auffordert: "Ignore all possible concepts and possiblities". Und das kann auch als Konzept gelten, denn Ohad Naharin lässt seine Tänzer ungewöhnliche Bewegungsmuster erproben. Besonders eindrucksvoll wird das von Cassie Martín vorgeführt, die minutenlang einen extremen Gang mit markantem Hüftenhochziehen vorführt. "Decadence" ist eine Ballettcollage, die Naharin immer wieder neu aus seinen Stücken mit der Batsheva Dance Company zusammenstellt, sozusagen ein work in progress, in dem er den menschlichen Körper erforscht und die Möglichkeiten von Bewegungen ausreizt. Durch diese neue Körpererfahrung wird zugleich ein Bewusstseinsprozess in Gang gesetzt, der auch emotionale Ebenen einschließt.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt Ben J. Riepe mit seinem Stück "Environment", das hier zur Uraufführung gelangte. Das bloße Tanzen in Kostümen zu Musik ist nicht sein Anliegen. Er erweitert das herkömmliche Tanztheater um Elemente, die neben den Performern eine ebenso große, gleichwertige Rolle spielen, wie Licht, Objekte, Sprache, Atmosphäre, Gedanken. Mit der Deutschen Oper am Rhein steht ihm zum ersten Mal ein Haus zu Verfügung, das seine Ideen in aller Breite umzusetzen vermag.
Ein Mann, gewandet wie im 19. Jahrhundert mit Frack und hohem Zylinder wandert in "Environment" über die Bühne, spricht und murmelt seine Gedanken vor sich hin. Besonders die Idee eines Livestreams der Gedanken scheint ihn zu faszinieren. Was man schon ahnt, wird später durch ein übergroßes Landschaftsbild im Goldrahmen bestätigt: es ist Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer", der dem Bild entkommen ist. Dass jedoch eine ständige Mitteilung der meist doch sehr banalen Gedankenflut interessant wäre, mag man bezweifeln, zudem damit auch die letzte Bastion der Freiheit fallen würde. Neben dem Wanderer gibt es zwei giftgrüne Wesen mit Würfelhelm und einem giftgrünen Mobil, weiße skulptural gewandete Figuren, die wie von einem japanischen Edeldesigner ein¬gekleidete Nonnen wirken, Camouflagefiguren, die sich zu einem Abendmahl zusammen¬finden, diverse Vorhänge, die den Bühnenraum immer kleiner gestalten.
Es sind freie Assoziationen und Versatzstück aus der Kunst, die Ben j. Riepe hier zusammenfügt. Vielleicht der Versuch, den Begriff des Bewusstseinsstroms aus der Literatur in Bewegung umzusetzen? Ein faszinierender, sehr ambitionierter Ansatz, der jedoch zu sehr auszuufern scheint.
Für die Freunde des klassischen Balletts gab es zum Abschluss als Uraufführung das Abendlied" von Remus Şucheană zu Schuberts Musik Trio Nr. 2 Es-Dur D 929 für Klavier, Violine und Violoncello. Dabei kamen auch wieder die Düsseldorfer Symphoniker zum Einsatz, die wie immer kongenial musizierten. Die Positionierung dieses Werks als letztes Stück des Abends erscheint etwas unglücklich, denn Şucheană hält sich sehr stark an die sublimere und formellere Bewegungssprache des klassischen Balletts, die es doch erschwert, sich nach den beiden sehr ausdruckstarken Vorgängern hineinzufinden. Das Thema des Wanderns wird hier im Rhythmus der Musik wieder aufgegriffen. Ab und zu fällt einer der Tänzer aus dem Ensemble heraus, es ist der Wanderer, der melancholische Beobachter, den wir aus Schuberts Liedern so gut kennen. Und von Positionen dieser Art hätte man sich in Şucheanăs Stück etwas mehr gewünscht, dem etwas mehr Kontrast gut tun würde.
So unterschiedlich die drei Stücke auch sind, dem Ensemble des Balletts der Deutschen Oper am Rhein gelang es wie immer, alles in höchster Perfektion umzusetzen, und so wurden die mehrfach Preisgekrönten auch wieder enthusiastisch vom Publikum gefeiert.
"Decadance"
Choreographie: Ohad Naharin
Kostüme: Rakefet Levy
Licht: Avi Yona Bueno (Bambi)
Lichtumsetzung: Gadi Glik
Choreographische Einstudierung:Iyar Elezra
Tänzerinnen: Camille Andriot, Mariana Dias, Sonia Dvořák, Alexandra Inculet, Helen Clare Kinney, Aleksandra Liashenko, Norma Magalhães, Cassie Martín, Virginia Segarra Vidal
Tänzer: Rashaen Arts, Brice Asnar, Yoav Bosidan, Rubén Cabaleiro Campo, Vincent Hoffman, Pedro Maricato, Alexandre Simões, Arthur Stashak
"Environment "(Uraufführung)
Choreographie, Bühne, Kostüme & Licht: Ben J. Riepe
Licht: Ben J. Riepe, Thomas Diek
Komposition / Sounddesign: Roman Pfeifer
Sounddesign / Produktion: Misagh Azimi
Assistenz, Mitarbeit Kostüme & Bühne: Gwen Wieczorek
Beratung Bühne: Martin Rottenkolber
Stimmbildung: Romana Noack
Tänzerinnen: Ann-Kathrin Adam, Doris Becker, Feline van Dijken, Norma Magalhães, Cassie Martín, Virginia Segarra Vidal, Elisabeta Stanculescu
Tänzer: Rashaen Arts, Brice Asnar, Yoav Bosidan, Philip Handschin, Vincent Hoffman, Sonny Locsin, Friedrich Pohl, Boris Randzio, Alexandre Simões
Abendlied (Uraufführung) Remus Şucheană
MUSIK Trio Nr. 2 Es-Dur D 929 für Klavier, Violine und Violoncello von Franz Schubert
Choreographie: Remus Şucheană
Bühne & Kostüme: Darko Petrovic
Licht: Thomas Diek
Klavier: Alina Bercu
Violine: Franziska Früh
Violoncello: Nikolaus Trieb
Tänzerinnen: Ann-Kathrin Adam, Camille Andriot, Doris Becker, Mariana Dias, Feline van Dijken, Sonia Dvořák, Alexandra Inculet, Kailey Kaba, Yuko Kato, So-Yeon Kim, Helen Clare Kinney, Aleksandra Liashenko, Norma Magalhães, Cassie Martín, Claudine Schoch, Virginia Segarra Vidal, Elisabeta Stanculescu, Julie Thirault
Tänzer: Rashaen Arts, Brice Asnar, Yoav Bosidan, Rubén Cabaleiro Campo, Michael Foster, Filipe Frederico, Philip Handschin, Vincent Hoffman, Sonny Locsin, Pedro Maricato, Tomoaki Nakanome, Bruno Narnhammer, Chidozie Nzerem, Friedrich Pohl, Boris Randzio, Alexandre Simões, Arthur St
- 27.04.2018 - 13.06.2018 Opernhaus Düsseldorf