Im dritten gemeinsamen Werk trifft die Antikenwelt der Elektra auf das Rokoko des Rosenkavaliers. Das experimentelle Konzept für die 1916 in Wien in ihrer endgültigen Gestalt uraufgeführte Ariadne auf Naxos hatte sich in einer verwickelten Entstehungsgeschichte als die Kombination zweier gegensätzlicher Teile heraus geschält: ein als „Vorspiel“ bezeichneter erster Teil mit Buffo-Charakter steht vor einem mit „Oper“ titulierten zweiten Teil mit heroischer Attitüde. Wovon die beiden Künstler mit und durch eine Vielzahl von Charakteren erzählen, das hat mit dem historischen Ambiente, das der Text zu suggerieren scheint, nichts gemein. Im unversöhnlich erscheinenden Gegensatz von Neo-Rokoko-Komödie und altgriechischer Sage, von Opera buffa und Opera seria sprechen sie vom Widerspruch zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen Kunst und Leben bzw. vom Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft. In der „Oper“, dem zweiten Teil, tritt außerdem noch eine ganz lebensnahe, existentielle Frage an die Oberfläche: nämlich die nach den Chancen, eine gescheiterte Beziehung zu überwinden, den Zustand des Verlassenseins zu bewältigen. Entsprechend modern erscheinen die Personen, die diese Doppel-Oper bevölkern.
Das „Vorspiel“ hat zwar szenisch-zeitlich das gleiche Gewicht wie die folgende „Oper“, aber inhaltlich formuliert es im Gewand der leichtfüßig-genrehaften Garderobenszene so etwas wie eine Einleitung zur folgenden Ariadne-Oper: die handelnden Figuren (und ihrer Sänger) werden vorgestellt, die Grundkonflikte werden ausgebreitet und die zentralen Aussagen des Ganzen werden vorformuliert. Das „Vorspiel“ ist in inhaltlich-szenischer Hinsicht so etwas wie das werkimmanente „Making of“ der Oper „Ariadne auf Naxos“.
Die Gefahr der Doppel-Oper Ariadne auf Naxos besteht allerdings in der Gefahr eines Spannungsabfalls an der Nahtstelle. Wenn die „Oper“ beginnt, herrscht zwar die Vorfreude auf etwas unbekanntes Neues – ganz wie zu Beginn eines Theaterabends in jenem Moment, in dem der Vorhang aufgeht. Aber es ist eben ein Beginn – von einem musikalisch-szenischen Nullpunkt aus.
Regisseurin Aurelia Eggers und ihr Team haben daher Wert darauf gelegt, die Handlung mit all ihren Verzweigungen und Figuren verständlich und miterlebbar zu machen. Um mit dem Bruch in der Mitte konstruktiv umzugehen, hat Eggers sich dazu entschieden, das altgriechische Götterambiente den Gegenständen, die Hofmannsthal in seinem Libretto verhandelt, gegen eine allgemeingültige Zeitlosigkeit einzutauschen. Wenn erster und zweiter Teil in einer Zeit spielen und die darin auftretenden Sänger die gleichen Menschen verkörpern, dann ist die „Oper“ die Geschichte einer jüngst verlassenen Frau, die sich in ihrer Trauer in sich selbst zurück gezogen hat – was anderes als „Isolation“ zeigt die „wüste Insel“? Mit ihren Primadonnen-Allüren schützt sich die Sängerin gegen ihre von Konkurrenz, Neid und Aufdringlichkeit gekennzeichnete Umwelt. Aber wenn sie allein ist – auf ihrer Insel – kommt ihre Trauer, ihre Verzweiflung über das Verlassensein zum Vorschein.
Zerbinetta und ihre „Freunde“ sind nicht nur Konkurrenten im Theater, sondern auch Freunde im Leben der Sängerin und versuchen, sie aufzuheitern. Die vermeintlich oberflächliche Zerbinetta zeigt Ariadne schließlich, dass ihr Schicksal nicht einzigartig ist, dass sie eine Erfahrung macht, die viele Menschen teilen müssen:
„Prinzessin, hören Sie mich an […] wer ist die Frau, die es nicht durchgelitten hätte? Verlassen! In Verzweiflung! Ausgesetzt! Ach, solcher wüster Inseln sind unzählige auch mitten unter Menschen, ich – ich selber habe ihrer mehrere bewohnt“