Am 23. Oktober 2002 besetzten über 40 tschetschenische Terroristen im zweiten Akt des Musicals "Nord-Ost" das Theater an der Dubrowka in Moskau und nahmen die Angestellten des Theaters, die Schauspieler und 850 Zuschauer als Geiseln. Die islamistischen Rebellen forderten die Beendigung des Tschetschenien-Krieges und den Abzug der russischen Truppen. Unter den Geiselnehmern waren auch 20 "Schwarze Witwen", tschetschenische Frauen, die Angehörige im Krieg verloren hatten und daraufhin zu Kämpferinnen und Terroristinnen wurden. Die Geiselnahme wurde am 26. Oktober blutig beendet. Bei der Befreiung wurde ein Betäubungsgas eingesetzt, welches für viele Geiseln tödliche Folgen hatte. Es kamen im Zuge des Gaseinsatzes und der Stürmung des Theaters 130 Geiseln und 40 Terroristen ums Leben. Letztere wurden, durch die Wirkung des Gases bewusstlos, von der Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdiensts an Ort und Stelle erschossen.
Das auf diesen Tatsachen beruhende Stück "Nordost" von Torsten Buchsteiner, welches am Royal Dramatic Theatre in Stockholm 2006 zur Uraufführung kam, enthält drei schonungslose Gedankenprotokolle. Zu Wort kommen drei Frauen: Zura, eine der schwarzen Witwen, Tamara, eine Ärztin die in jener Nacht mit dem Notarztwagen in Moskau unterwegs ist und Olga, eine sich unter den Geiseln befindende Zuschauerin. Sie alle suchen unter der Wucht der existentiellen Bedrohung auch nach Spuren, die über das drei Tage währende Geiseldrama hinausreichen.
Der Text fußt auf einer sehr präzisen Recherche des real Vorgefallenen, aber darüber hinaus gibt der Autor den drei Frauen eine genaue Biographie, lässt sie sehr intim über Lebensumstände sprechen und öffnet damit einen Blick in drei sehr unterschiedliche und doch exemplarische Leben. Olga, Zura, und Tamara sind durch ein Erlebnis geprägt, das sie als Frauen verbindet: die Zerstörung ihrer familiären Umfelder durch den Krieg. Auch wenn sie sich als Opfer und Täter am Schauplatz des realen Dramas begegnen, teilen sie am Ende des Stückes ein gemeinsames Schicksal, nämlich jenes Witwen zu sein.
Torsten Buchsteiner verzichtet auf eine szenische Handlung im üblichen Sinne. Die drei Frauen erzählen jeweils aus ihrer Perspektive über die realen Vorgänge und über ihre Lebensumstände. Der Autor verschränkt dabei Monologe, Dialoge und Trialoge, aber das Sprechen geschieht immer aus einer verdichteten Erinnerung der Erlebnisse ohne hierbei die Schuldfrage zu stellen. Für sein Stück erhielt Buchsteiner 2005 den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis der Kulturstiftung Rheinland-Pfalz sowie den Jurypreis der 1. St. Galler Autorentage.
Wo jedoch liegt die Grenze zwischen Darstellbarkeit und grausamer Wirklichkeit? Die junge Regisseurin Barbara Schulte nähert sich in ihrer Inszenierung (in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Frederic Lion) dem Text unter anderem mit Hilfe performativer Spiegelungen. Die Figuren, die
Zuschauer und der Ort selbst spiegeln sich. Die Zuschauer werden selbst zur "Öffentlichkeit" erklärt, an die sich der Text richtet. Der Nestroyhof als Schauplatz spiegelt sich mit seiner Atmosphäre zwischen Vergänglichkeit und Intervention und wird zum kollektiven Erinnerungsraum, zur Projektionsfläche der erzählten realen Ereignisse.
Inszenierung: Barbara Schulte
Mit: Monika Bujinski
Barbara Gassner
Karin Yoko Jochum
Dramaturgie: Susanne Höhne
Raumkonzept/Videoprojektionen: Andreas Braito
Kostüme: Julia Eisenburger
Sounddesign: Roumen Dimitrov
Licht: Stefan Pfeistlinger
Produktions- /Regieassistenz: Iris Harter
Realisierung/Bühnentechnik: Reinhard Taurer
Tontechnik: Jürgen Lentsch
Videoassistenz: Keskin Hüseyin
Hospitanz: Lukas Czech
Spieltermine: 1., 4., 5., 7. - 11. Dezember, jeweils 20.00 Uhr
14. - 18. Dezember, jeweils 20:00 Uhr
Spielort: Theater Nestroyhof Hamakom
Nestroyplatz 1, 1020 Wien
Begleitet werden die Vorstellungen von einem Rahmenprogramm mit hochkarätigen Mitwirkenden:
Am 2. Dezember wird der Film des Tschetschenien-Experten Eric Bergkraut 'Letter to Anna. The story of journalist Politkovskaya's death' gezeigt. Im Anschluss daran diskutieren der Filmemacher Eric Bergkraut, die Journalistin Susanne Scholl, Joachim Frank (Leiter der Menschenrechts-NGO "Austrian Helsinki Association") und Frederic Lion über das Thema "Zivilcourage, wo bitte kann man das kaufen? Anna Politkovskaya als Vorbild oder doch Modell."
Am 3. Dezember wird der Film 'COCA. Die Taube aus Tschetschenien, Europa und sein verleugneter Krieg.', ebenfalls von Eric Bergkraut, gezeigt. Die anschließende Diskussion behandelt 'Die Tschetschenen, das unbekannte Volk', außerdem werden Texte tschetschenischer Autoren u.a. von Babette Arens, Barbara Gassner, Karin Yoko Jochum, Eric Bergkraut und Frederic Lion gelesen.
Torsten Buchsteiner wird am 13. Dezember im Theater Nestroyhof Hamakom mit einer Lesung aus unveröffentlichen Texten und am 14. Dezember zu einem Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung zu Gast sein.