
Bridget Breiners Version spielt statt vor dem Küchenkamin im Bergarbeitermilieu, was bei dem Uraufführungsort Gelsenkirchen naheliegt und quasi die Assoziation vom titelgebenden "Ruß" mit Asche impliziert. Allerdings ist die Geschichte jetzt in einem fiktiven Ort in den USA angesiedelt. Diese örtliche Setzung wirkt sich auch auf die Musikauswahl aus, denn es werden Strauss-Walzer mit US-amerikanischen Arbeiter- und Protestliedern verquickt.
Clara, das Aschenputtel, ist fröhlich, selbstbewusst, sprudelnd vor Lebenslust und ihrem Vater, einem Minenvorabeiter, innig zugewandt. Als alleinerziehender Vater fühlt er sich überfordert und geht eine Ehe mit einer verwitweten Frau ein, die zwei Töchter hat, und die einen Versorger benötigt, um dem sozialen Abstieg zu entkommen. Diese Stiefmutter erweist sich als sehr dominant. In leuchtpunktartigen Miniszenen, die sich hinter schnell auf- und zugeschobenen Wänden entfalten, wird eindrucksvoll deutlich wie sie hart und rechthaberisch gleichermaßen ihre eigenen Kinder Livia und Sophia, als auch Clara und ihren Vater zurechtweist.
Livia hat die Ungezwungenheit Claras nicht, sie ist zurückhaltend und wird stark von ihrer Mutter beeinflusst. Sie beobachtet neidisch, wie sich alle Sympathien Clara zuwenden, selbst ihre kleine Schwester Sophia scheint diese ihr vorzuziehen. Allein der Bergarbeiter Mitch hat ein Auge auf sie geworfen. Livias Mutter hat jedoch andere Pläne. Sie möchte, dass sie den Industriellensohn J.R. Prince für sich gewinnt und verhindert, dass Clara auf einem Ball in seinem Haus erscheint. Dieser zeigt jedoch den ganzen Abend kein Interesse an der farblosen Livia und kokettiert lieber mit anderen Damen. Als dann auch noch Clara auftaucht, hat sie keine Chance mehr. Wie im Originalmärchen verliert Clara ihren Schuh, hier kein seidenes Pantöffelchen, sondern einen derben Arbeitsstiefel. Die Suche nach ihr, führt J.R. Prince zu ihrem Wohnhaus, wo die Stiefmutter Livia auffordert, ihren Fuß zu verstümmeln, damit dieser in den Schuh passt. Inzwischen hat Livia aber eine entscheidende, innere Wandlung durchlaufen, sie hält inne und gehorcht nicht.
Bridget Breiner bietet in ihrer Choreographie "Ruß" einen erfrischend anderen Blick auf eine altbekannte Geschichte. Jenseits von Schwarz-Weiß-Denken steht hier nicht Gut gegen Böse. Ihr gelingt es vielmehr ein Psychogramm der verschiedenen Charaktere, ihrer Stimmungen, unterschiedlichen Emotionen und ihrer Beweggründe zu erstellen und in den verschieden tänzerischen Ausdrucksweisen sichtbar zu machen. Der Begriff "Mauerblümchen" bekommt hier einmal ein eindrucksvolles Bild, wenn sich Livia in ihrer Position als Beobachterin an die Mauern drückt. Einen Moment des Glücks erfährt sie als sich der Arbeiter Mitch um sie bemüht und sie sich scheu aneinander herantasten. Eindrucksvoll ist auch die Darstellung eines enormen Streits zwischen Claras Vater und der Stiefmutter auf dem Ball des Industriellensohnes. Hinreißend zart und berührend ist der Pas de deux voller Glückseligkeit als Carla und J.R. Prince sich ineinander verlieben.
Die beiden kontrastierenden Lebenswelten – hier das Bergarbeitermilieu, dort das luxuriöse Leben eines Industriellenhaushalts – spiegeln sich in der musikalischen Collage wider, die passend zu den unterschiedlichen Lebenswelten ausgewählt wurde, dazu erklingt auf dem Akkordeon zeitgenössische Musik, vom Marko Kassl live gespielt. Im reduzierten Bühnenbild verweisen aufgehängte Körbe in den Bergarbeiterszenen auf die Waschkauen und dienen in der Ballszene als Kronleuchter. Spitzenschuh und Arbeiterstiefel, einfache Kleidung und elegante Abendroben in Dunkelblau, auch die Kostüme harmonieren mit den verschiedenen Anlässen, so dass sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt.
Natürlich finden Aschenputtel Clara und Prince zueinander. Aber ganz, ganz zum Schluss gelingt es Livia sich von den Vorstellungen und Anordnungen ihrer Mutter und von ihrem Neid zu erlösen und sich auf den Weg zu einem befreiten, eigenständigen Leben zu machen. Und das ist ein wirklich gutes Ende!
Jetzt jedenfalls hat man einige Denkanstöße erhalten und sieht das Ursprungsmärchen mit anderen Augen. Und diese neue Sichtweise in einer wirklich hinreißenden, technisch brillanten Aufführung wurde ganz zu Recht mit lang anhaltendem Beifall bedacht.
Choreographie: Bridget Breiner
Choreographische Einstudierung: Lynne Charles/Joshua Swain
Bühne und Kostüme: Jürgen Franz Kirner
Licht: Patrick Fuchs
Dramaturgie: Anna Grundmeier
Dramaturgische Betreuung: Julia Schinke
Akkordeon: Marko Kassl
Musik: Johann Strauss, Woody Guthrie, Klaus Paier, Marko Kassl
Livia: Balkiya Zhanburchinova
Sophia: Camilla Agraso
Mutter von Livia und Sophia: Svetlana Bednenko
Clara: Neshama Nashman
Vater von Clara: Dukin Seo
J. R. Prince, Sohn eines Industriebarons: Skyler Maxey-Wert
Mitch, ein Arbeiter: Alejandro Azorín
Arbeiter: Niklas Jendrics, João Miranda, Márcio Mota, Vinícius Vieira, Yoav Bosidan, Joan Ivars Ribes, Long Zou
Ball: Paula Alves, Sara Giovanelli, Nami Ito, Clara Nougué-Cazenave, Rose Nougué-Cazenav, Joan Ivars Ribes, Niklas Jendrics, Damián Torío, Vinícius Vieira
Die Musik des Balletts
Live-Musik
• Franck Angelis: Impasse, 3.Satz und 4. Satz
• Marko Kassl: Ruß.Partikel
• Klaus Paier: Awakening; Hymn
• Arash Safaian: Alpha
• Johann Strauss (Sohn): Aschenbrödel (arrangiert für Akkordeon von Marko Kassl)
• Fumio Yasuda: Blue Ruins
Musik vom Band
• Hazel Dickens: Pretty Bird
• Sarah Ogan Gunning: Hello Coal Miner
• Woody Guthrie: 1913 Massacre
• Uncle Dave Macon: We‘re up against it now
• Camille Saint-Saëns/Nina Simone: Thema aus „Samson and Delilah“
• Johann Strauss (Sohn): Aschenbrödel, An der schönen blauen Donau