Neben dem dreh- und sprunggewaltigen Richard Cragun (der 2012 verstorben ist) überraschte Birgit Keil mit ihrer wunderschönen Linie das Publikum. Marcia Haydee erschien als beseelte Lyrikerin, während Egon Madsen voller Schalk und Virtuosität agierte. So entsteht eine spannende Reise in die Gegenwart. Eine lebendigere und elektrisierendere Choreographie kann man sich nicht vorstellen, zumal das Stuttgarter Ballett hier von der Musik des zweiten Klavierkonzerts in B-Dur von Johannes Brahms begleitet wird. Da offenbaren sich viele Geheimnisse. Alexander Reitenbach spielt den Solopart, einfühlsam begleitet vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Mikhail Agrest. Es ist kein Handlungsballett - und dennoch erzählt es sehr viel. Das Stück hat nicht nur mit John Crankos erwähnten vier Freunden zu tun, sondern auch mit Brahms und seiner Freundschaft zu Clara Schumann.
Der dritte Satz ist Marcia Haydee gewidmet. Da ist eine Frau, die alleine ist. Sie lernt jemanden kennen und liebt diesen Mann sehr. Doch die beiden bleiben nicht zusammen. Davon berichtet die Kompanie in all ihren wunderbaren und vielfältigen Bewegungen. Die Poesie des Brahms-Konzerts kann sich durch den sensiblen Tanz erst richtig entfalten. Man denkt zuweilen sogar an Francoise Sagans Roman "Lieben Sie Brahms?" Jeder einzelne Tänzer scheint hier seine persönliche Geschichte zu erzählen. Sinfonische Züge stechen dabei genauso stark wie virtuose Passagen hervor. Eine aufbegehrende Leidenschaft macht sich breit, die die Zuschauer in unmittelbarer Weise ergreift. Abgeklärtheit und reife Wärme strahlt diese hervorragende Choreographie ebenfalls aus, die so viel von John Crankos unverwechselbarer Persönlichkeit besitzt. Wie aus romantischen Märchenwäldern taucht so das Hauptthema des ersten Satzes als Hornruf auf, das die Tänzer sofort aufgreifen und in vielen Variationen weiterführen. Das Klavier-Echo scheint hier in geheimnisvoller Weise den Tanz zu bestimmen.
Viele Pas-de-deux-Einlagen und Pirouetten bestätigen hier die wunderbare Leichtigkeit des Tanzes. Dies gilt nicht nur für die "arabesque"-Sprünge. Insbesondere die Orchestersteigerungen werden von den Tänzern immer wieder wirkungsvoll umgesetzt. Farbig gelingt die kunstvolle Durchführung. Auch das trotzig-unwirsche Thema des Scherzos besitzt klare Konturen. So kommt es zu spukhaft-gejagten, träumerischen Visionen. Schwärmerische Andacht angesichts zweier Melodien beherrscht das Andante des dritten Satzes, die Brahms bereits beim Lied "Immer leiser wird mein Schlummer" verwendet hat. Das Klavier meditiert träumerisch zart - und das Stuttgarter Ballett gestaltet die Kantilenen des Solocellos sphärenhaft nach. Das Klavier breitet einen hellen Schleier um das Traumbild. Im Mittelteil mahnen die Klarinetten still an die Wendung "Hör' es, Vater in der Höhe, aus der Fremde fleht dein Kind" aus dem Lied "Todessehnen". Die Musik klingt wie aus der Ferne - und die Tänzer betonen dies auch so.
Im Rondo-Finale triumphiert die grandiose Sprungtechnik. Abwandlungen und Einkleidungen des Kopfthemas behaupten sich graziös. Das Seitenthema mündet in eine suggestive Bratschenbegleitung, die das Stuttgarter Ballett in reizvollen Figurationen unterstreicht. Die konzertanten Auseinandersetzungen besitzen hier tänzerisch etwas ungemein Bezauberndes und Schwungvolles.
Das "Requiem" op. 49 von Gabriel Fauré wird in der ausdrucksstarken Choreographie von Kenneth MacMillan und dem eher schlichten und mit Glaskästen aufwartenden Bühnenbild von Yolanda Sonnabend dann ebenfalls eindringlich umgesetzt. Die Gesangssolisten Kiki Sirlantzi (Sopran) und Kabelo Lebyana (Bariton) machen zusammen mit dem figure humaine kammerchor (Choreinstudierung: Denis Rouger) und dem Staatsorchester Stuttgart unter Mikhail Agrest sowie dem mit sphärenhafter Noblesse tanzenden Stuttgarter Ballett die milde Trauer deutlich, die die Schrecken des "dies irae" einfach übergeht und mit einem friedvollen "Wiegenlied des Todes" endet, das die Solisten des Stuttgarter Balletts wie eine geheimnisvolle Krönung zelebrieren. Verhalten, formstreng und sich nach klassischem Muster orientierend erscheint das "Requiem" von Gabriel Fauré in dieser Choreographie wie eine Apotheose mit tausend impressionistischen Schleiern, flehenden, aufbegehrenden Gesten und einer stark verinnerlichten Körpersprache.
Die Modulationen von Moll nach Dur erfahren bei dieser subtilen Choreographie bei den Tänzern eine unglaubliche Fülle von unverhofften Gesten, die die Klänge in vielen Facetten widerspiegeln. So gibt es deutliche Assoziationen zum Himmelreich. Sequenzen wie "Pie Jesu" und "In paradisum" werden vom Stuttgarter Ballett mit einer berührenden Intensität verkörpert. Erinnerung und Hoffnung vereinigen sich.
Am Ende Riesenjubel, Ovationen - vor allem, als Marcia Haydee, Birgit Keil und Egon Madsen auf der Bühne erscheinen. Sie haben diese Arbeit mit den jungen Tänzern einstudiert.