
Orfeo beklagt den Verlust von Euridice hier mit VR-Brillen, die dem Publikum zur Verfügung gestellt werden. Alles wird über ein High Density WLAN Netzwerk gesteuert. Stereoskopische 360-Grad-Animationsfilme zeigen die Virtual Reality in durchaus faszinierender Weise. Und die Bewegungen der Figuren werden dafür im Motioncapture-Verfahren mit echten Menschen aufgezeichnet! Amore eröffnet Orfeo die Möglichkeit, Euridice in die Unterwelt zu folgen - er dürfe aber auf keinen Fall zurückschauen. Das dürfen dann auch mit den VR-Brillen die Zuschauer, die plötzlich ebenso wie Orfeo von wilden Furien bedrängt werden. Diese Bilder besitzen eine starke suggestive Kraft. Dasselbe gilt für die hellbeleuchtete Szene im paradiesischen Elysium, wo er seine Euridice wiederfindet. Doch Orfeo und Euridice streiten sich, da Orfeo stets den Blick von Euridice abwendet. Sie zweifelt an seiner Liebe. Schließlich hält es Orfeo nicht mehr aus und er schaut sie an - und plötzlich stürzt Euridice zurück in die Unterwelt.
Doch Orfeos Klage rührt Amore - und er holt Euridice endgültig aus der Unterwelt zurück. Das neue Leben wird zuletzt gefeiert. Die Oper spielt bei dieser Inszenierung in einem Kunstmuseum, wo Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio ausgestellt sind. Menschen in modernen Kostümen, Nonnen, ein Kardinal und sogar Jesus Christus tauchen plötzlich auf. Dazu gibt es einen von Katja Sieder dargestellten VR-Guide, der dem Publikum bezüglich der VR-Brille Gebrauchsanweisungen gibt. Das Bühnenbild kann durchaus beeindrucken, einzig die Schluss-Szene fällt in in ihrer erzwungenen Modernität und Überladenheit optisch ab. Musikalisch ist diese Aufführung in jedem Fall ergiebig.
Unter der einfühlsamen Leitung von Ivan Demidov musizieren die Augsburger Philharmoniker mit Gastmusikern an Zinken, Laute und Cembalo mit durchsichtigem Klangbild und deutlichen dynamischen Kontrasten. Manchmal könnte allerdings die Ebenmäßigkeit des Klangbilds noch klarer zum Vorschein kommen. Glucks Opernreform-Ideen werden hier aber konsequent umgesetzt. Das musikalische Selbstgespräch der Arien mit all ihren dramatischen und seelischen Ausdrucksnuancen erfährt in der eindrucksvollen Darstellung von Natalya Boeva als Orfeo, Jihyun Cecilia Lee als Euridice und Olena Sloia als Amore eine bewegende Darstellung. Das zeigt sich in den berührenden Kantilenen der großen Soloszene des Orpheus im ersten Akt, wo das Orchester harmonisch durchsichtige Hintergründe bei der Beschreibung von Tälern, Felsen, Gewässern und Lüften beschreibt. Die Virtual Reality beleuchtet das Ganze mit origineller Präzision.
Im zweiten Akt gewinnt bei der Arie "Welch reines Licht" Orpheus' Eintritt in die Gefilde der Seligen einen sphärenhaft-leuchtenden Charakter, der sich tief einprägt. Der Geist der Totenklage im ersten Akt überzeugt vor allem auch aufgrund des eindringlich gestaltenden Opernchores des Staatstheaters Augsburg. Die homophone Führung des vierstimmigen Chores erreicht eine ungeahnte Intensität. Ferner fesseln klare Pizzicato-Akzente der Streicher und markante Bläser-Einsätze. Orfeos dreimalige Rufe "Euridice!" erreichen eine starke Ausdruckskraft. Der Kontrast Hölle und Himmel im zweiten Aufzug gelingt besonders eindrucksvoll.
Im ersten Teil des Schlussaktes erhält das immer drängender erscheinende Rezitativ einen dramatischen Impetus. Das C-Dur von Orfeos berühmter Arie "Ach, ich habe sie verloren" besticht dank des klangfarbenreichen Timbres von Natalya Boeva, das den Schmerz in abgrundtiefer Verlassenheit beschwört. Im ersten Akt überwiegt dagegen noch deutlich der Mollcharakter. Ivan Demidov betont als umsichtiger Dirigent hier immer wieder den großen Zauber der melodischen Bögen, was vor allem den Sängerinnen zugute kommt. Die rhythmische Umsetzung des Wortes "Euridice" wird vom Opernchor des Staatstheaters Augsburg konsequent verdeutlicht. Dass der Chor von Gluck als Block gesetzt wurde und Note gegen Note verläuft, macht diese konzentrierte Interpretation gut deutlich. Alle Stimmen deklamieren denselben Text im gleichen Rhythmus. "Euridice" und ihr Attribut "ombra bella" werden von den Streichern in überzeugender Weise harmonisch schwebend dargestellt. Die Viertongruppen mit dem Sext-Akkord der Tonika und dem verminderten Septakkord gewinnen Ausdruckszauber. In Paris wurde der Orfeo übrigens von einem Haute-Contre, einem sehr hohen Tenor gesungen, dem Gluck bezüglich der "Euridice-Rufe" zurief: "Schreien Sie ganz einfach so schmerzvoll, als ob man Ihnen ein Bein absäge!" Klanglich eindringlich gelingt dabei auch die Wucht des c-Moll-Chores, dem ein kurzes Rezitativ des Orpheus folgt. Und den rhythmischen Widerstand der Furien meisselt das Ensemble mit scharfen Akzenten heraus! Dass Gluck sich bei diesem Werk vor allem der Tonart C-Dur bediente, die er mit für die damalige Zeit geradezu revolutionären Dissonanzen durchsetzt hat, wird bei dieser Interpretation packend herausgearbeitet.
Die Zweiton-Bindungen des Weinens und Klagens erhalten hier ebenfalls eine gebührende Würdigung. Die dramatische Leidenschaft wird ebensowenig vernachlässigt. Und das Rezitativ leuchtet immer wieder als ergreifende Darstellung der menschlichen Empfindung hervor. Das Lied dagegen überzeugt als Verkörperung des Ethos der handelnden Person. So gab es zuletzt viele "Bravo"-Rufe für die Sängerinnen und starken Schlussapplaus für das gesamte Ensemble.