Sehr expressiv und schwungvoll kommt die Arbeit "In Esisto" ("Exisiteren in") von Vittoria Girelli (Choreographie und Kostüme) daher, die Dantes Visionen bis hin zu Dan Flavins Stimmungen in geheimnisvoller Weise beschwört. Auch James Turrells leuchtende Risse im Raum stechen hier sofort ins Auge. Herzschläge pulsieren in elektrisierender Weise in der nächtlichen Schwärze bis hin zur grandiosen Morgendämmerung. Es ist ein Übergang von der Blindheit zum Licht, wo auch die subtile Musik von Davidson Jaconello und das von diesem arrangierte Piano Konzert in E op. 59 von Moritz Moszkowski ihre unmittelbare Wirkung nicht verfehlen. Der harmonische Zauber und die kontrapunktischen Verstrickungen werden von den Tänzern Rocio Aleman, Mackenzie Brown, Martino Semenzato, Timoor Afshar und Lassi Hirvonen (um nur einige zu nennen) in überaus facettenreicher Weise beschworen. Ein Raum von Licht steht dabei im zentralen Mittelpunkt, der das Geschehen nachdrücklich prägt. Es ist eine Atmosphäre zwischen Schlafen und Wachen, Leben und Traum, Zusammengehörigkeit und Entfremdung. Der Kosmos des gesamten Raumes steht auch tänzerisch im Mittelpunkt (Bühne und Licht: A.J. Weissbard).
In eine andere Welt entführt das Publikum dann Alessandro Giaquinto im weiträumigen Bühnenbild von Chiara Bugatti (Kostüme: Mylla Ek) und dem musikalischen Arrangement von Claudio Borgianni bei seiner Choreographie "Ascaresa" ("Nostalgie"). Hier gewinnen unter anderem die Tänzer Ruth Schultz, Anouk van der Weijde, Giulia Frosi, Joana Senra und Aurora De Mori der filigranen Musik von Tomaso Albinoni bei den beiden Konzerten op. 9 Nr. 5 und op. 9 Nr. 9 ungewöhnliche Nuancen ab. Auch hier wirkt der Rhythmus wie ein unheimlicher Herzschlag, der die Themen und Bewegungen immer wieder vorantreibt. Zwischen einem allmählich verschwindenden Sandberg und stählernen Säulen wird dem Zuschauer eindringlich vderdeutlicht, dass niemals etwas von Dauer ist. Die Präsenz von Abwesenheit erinnert an Dinge, die einmal da waren und eine große Bedeutung hatten, obwohl sie mittlerweile nicht mehr existieren. Wieder spielt auch die Nostalgie des Raumes eine Rolle. Assoziationen zu John Crankos "Onegin" werden ganz versteckt geweckt. Das Zerbröckeln der Zeit ist auch an den Körpern der Tänzer spürbar. Der Klangfarbenreichtum der Sonate in g-Moll von Domenico Gallo sowie Aldous Hardings "Swell Does The Skull" verschmelzen mit reizvollen visuellen Figurationen hier zu einem Akt der Befreiung von allen Fesseln. Verlust, Verfall, Aufbau und Zerstörung bleiben erfahrbar.
Einen verlorenen Raum präsentiert die wirkungsvolle Choreographie von Fabio Adorisio bei "Lost Room" ("Verlorener Raum") mit der suggestiven Musik von Marc Strobels "Aperture" sowie geradezu eruptiven Ausschnitten aus Sergej Rachmaninoffs Cellosonate in g-Moll op. 19 und Edvard Griegs Cellosonate in a-Moll op. 36. Die Zeit hat hier keine bestimmte Ordnung, sondern besitzt nur filmartige Sequenzen. Man spürt, wie stark diese Arbeit von der Musik inspiriert ist. Darauf gehen auch Bühne und Kostüme von Thomas Mika ein. Traumata, Ängste und vergessene Ereignisse scheinen dabei auch tänzerisch verarbeitet zu werden. Die Klarheit von Rachmaninoffs Sonate versetzt den Betrachter in die Vergangenheit, die virtuos und pathetisch zelebriert wird. Weitschwingende Bewegungen verbinden sich mit einem unaufhörlichen Fallen und Loslassen, was die dramatische Melodie von Griegs Sonate unmittelbar aufnimmt und weiterträgt. Das Cello überrascht dabei mit einem geradezu genießerisch freien Lauf, den neben anderen vor allem die Tänzer Agnes Su, Mizuki Amemiya und Eva Holland-Nell subtil aufnehmen. Das Sichaufbäumen zum Fortissimo wird in expressiven Bewegungen umgesetzt. Die ständig zur Quinte zurückfallende Kantilene des Hauptthemas erscheint in verschiedenen tänzerischen Variationen. Der Rollen- und Charaktertausch der Instrumente besitzt hier energisch gestaltete Formen und Strukturen. Der Lichtkegel in den Gesichtern der Tänzer flackert hin und her, vermittelt ein Gefühl der ständigen Bewegung - und man hat das faszinierende Gefühl, etwas Verlorenes festhalten zu können. Der Zusammenklang von Musik und Tanz wird dabei auf eine geniale Weise beschworen.
Großer Jubel, Begeisterung.