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"Blicke nicht zurück": Ein interdesziplinärer Orpheus-und-Eurydike-Themenabend der Philharmonie Essen

23. Juni 2012 um 18:00 Uhr. -----

„Blicke nicht zurück“ lautet das strenge Motto. Aber natürlich tun sie es doch – die Macher der Philharmonie Essen. Für ihren Sommernachtstraum 2012 haben sie Werke aller drei darstellenden Künste zu einem außerordentlichen Orpheus-und-Eurydike-Themenabend zusammengespannt:

Die erste Oper überhaupt, Monteverdis L'Orfeo, in einer Interpretation des Balthasar-Neumann-Ensembles unter Thomas Hengelbrock, ein Tanzstück von Patrick Delcroix, präsentiert vom Aalto BallettTheater Essen – und eine veritable Uraufführung: Auf Anregung der Philharmonie Essen schrieb Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ihre Version des antiken Mythos: Schatten (Eurydike sagt). In der Titelrolle: Johanna Wokalek.

 

Musikalisch, tänzerisch und schauspielerisch erkundet die Philharmonie Essen den Gründungsmythos von Musik und Künstlertum schlechthin – die Geschichte von Orpheus und Eurydike. Claudio Monteverdi inspirierte die Sage von der überirdischen Macht der Musik zu seiner „Favola in Musica“ L'Orfeo, die als erste Oper überhaupt gilt. Thomas Hengelbrock, der engagierte Vordenker und Avantgardist der historischen Aufführungspraxis, wird sie mit dem legendären Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble in Essen interpretieren. Das zeitgenössische Echo auf Monteverdis frühes Meisterwerk stammt aus der Feder von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Angeregt von der Philharmonie Essen, schrieb sie das Stück Schatten, das die überraschende Sicht Eurydikes auf Orpheus' Rettungsversuch schildert. Für die Uraufführung am 23. Juni konnte Johanna Wokalek als Darstellerin der Eurydike gewonnen werden. Zu später Stunde im Park endet der Sommernachtstraum 2012: Das Aalto Ballett Theater Essen tanzt zwei Choreographien um Liebe und Verlust – Jiří Kyliáns Petite Mort und Patrick Delcroix' Cherché, trouvé, perdu.

 

Schatten (Eurydike sagt) – ein neues Werk von Elfriede Jelinek

 

Bei Eurydike war es ein Schlangenbiss. Denn diese Frau hat nie gezögert, den Finger in die Wunde zu legen. Elfriede Jelinek, lange Zeit ebenso angefeindet wie gefeiert, galt als Enfant terrible der österreichischen Literatur, bevor ihr der Nobelpreis 2004 endgültig den Status der Großschriftstellerin und moralischen Instanz verlieh. Doch auch nach dieser ultimativen Ehrung ignorierte Jelinek unverändert die Konventionen und Erwartungen des Literaturbetriebs. Ebenso unvermindert blieb die Substanz, provokante Power und drastische Sprache ihrer Romane, Dramen und Texte. Von der Philharmonie Essen hat sie sich anregen lassen, den vernachlässigten weiblichen Teil des antiken Mythos zu erzählen. In einem atemlosen, zornigen und wunderbar sarkastischen Monolog zieht eine durch und durch heutige Eurydike die Bilanz ihres kurzen Lebens an der Seite des Starmusikers Orpheus. Mit Johanna Wokalek ist wohl die Idealbesetzung für die anspruchsvolle, intensive Rolle gefunden. Denn die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin hat sich mit großem Erfolg immer wieder den innerlich zerrissenen, komplizierten, verletzlichen Figuren zugewandt, darunter Gudrun Ensslin in Der Baader Meinhof Komplex, die „Päpstin“ Johanna oder in zahlreichen Inszenierungen ihres Heimatensembles, des Wiener Burgtheaters. In Szene gesetzt wird sie von einem Mann, den man getrost als den einflussreichsten deutschen Gestalter der Gegenwart bezeichnen kann – Peter Schmidt. Auf das Konto des kulturbesessenen Designers gehen unter anderem die Apollinaris-Flasche oder die zu Klassikern avancierten Parfüm-Flakons für Jil Sander und Hugo Boss. Als Bühnenbildner entwarf er Räume für John Neumeiers Zwischenräume, Tod in Venedig und dessen Parzival-Projekt, für Heinz Spoerlis Bach-Abend Wäre heute morgen und gestern jetzt oder für die Uraufführung von Ichirô Nodairos Oper Madrugada unter Kent Nagano. Seine Ausstattung für Jelineks Monolog baut auf die pure visuelle Essenz einer flüchtigen Schattenwelt.

 

 

Thomas Hengelbrock – Wanderer zwischen den Welten

 

In der alten Musik ist er genauso zu Hause wie bei den Zeitgenossen: Der Dirigent, Orchester- und Festivalgründer und Regisseur Thomas Hengelbrock hat die historisch informierte Aufführungspraxis revolutioniert – indem er sie konsequent auf alle Epochen anwendet, gleichgültig ob es um Bach, Verdi oder die musikalische Moderne geht. Seine Lust, neue Wege zu gehen, scheint unerschöpflich. Seine Arbeit ist geprägt von der Kollaboration mit Künstlern aller Sparten und der Entwicklung von – im Wortsinn – Musik-Theater-Projekten. Und so ist sein Beitrag zum Essener Sommernachtstraum ein weiterer typischer Hengelbrock im Resonanzraum von Sprache, Tanz und Oper.

 

Aalto Ballett mit Werken von Kylián und Delcroix – das fragile Glück der Liebe

 

Gebührender Abschluss: Der Sommernachtstraum 2012 endet – bei hoffentlich gutem Wetter – unter freiem Himmel. Das Aalto Ballett Theater Essen präsentiert zwei aktuelle Produktionen, die von der Vergänglichkeit, aber auch der Kraft der Liebe erzählen. Beide Choreographen sind mit DEM zeitgenössischen Ensemble schlechthin verbunden, dem Nederlands Dans Theater. Jiří Kylián, dessen langjähriger Künstlerischer Leiter, hat das NDT geprägt wie kein anderer. Sein Klassiker Petite Mort zu den langsamen Sätzen von Mozarts Klavierkonzerten KV 467 und 488 spielt mit der Spannung zwischen Sexualität und Tod, den Abgründen hinter der Fassade des vermeintlich so leichtlebigen Rokoko. Den Kreislauf der Liebe beschreibt Cherché, trouvé, perdu von Patrick Delcroix, der unter Kylián lange Jahre als Tänzer und später Choreograph am NDT wirkte – ein virtuos getanztes Suchen, Finden und Verlieren des Glücks zur suggestiven Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt.

 

Mehr Informationen: www.philharmonie-essen.de

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