In der suggestiven Inszenierung von Milo Rau (Dramaturgie und Research: Carmen Hornbostel; Set und Kostümdesign: Anton Lukas, Louisa Peeters) werden die Gründe verfolgt, warum es zu dieser kollektiven Selbsttötung kam. Das Reizvolle an dieser besonderen Inszenierung ist allerdings, dass dabei eine echte Familie auf der Bühne steht. An Miller und Filip Peeters treten hier nicht nur als Paar auf, sondern zum ersten Mal mit ihren beiden Töchtern Leonce und Louisa, die sich im besten Teenageralter befinden. Auch die beiden Hunde spielen in diesem von der belgischen Bundesregierung unterstützten Stück eine große Rolle. Das heutige Privatleben wird dabei in einer ethnologischen Studie plastisch untersucht, das Ganze wirkt so authentisch wie nur möglich.
Der Vater erliegt zunächst seiner fatalen Selbsttäuschung: "Ich mag Harry Potter, ich mag Pretty Woman." Trotz der zunehmenden Depression und Melancholie lieben die Eltern ihre Kinder: "Ich mag, dass die Mädchen immer noch so gerne kuscheln wollen..." Calais erscheint hier in den verschiedensten Motiven. Man sieht Filmsequenzen. Die Töchter sind als kleine Kinder zu sehen. Einmal wird auch der berühmte Bildhauer Auguste Rodin erwähnt. In der Rückblende wird festgestellt, dass die Polizei nichts Besonderes gefunden hat. "Alles ist voll mit Fotos von unserer Hochzeit", resümieren die Eltern.
Die Zuschauer werden immer stärker in den unheimlichen Sog dieses Dramas hineingezogen. Man erfährt, dass die Eltern angeblich nur zwei Mal Sex für ihre Kinder hatten. Die Zubereitung des Essens nimmt bei dieser Aufführung einen ungewöhnlich breiten Raum ein. Man spricht über Gustave Flaubert, kompromittierende Fotos. Zur Musik von Johann Sebastian Bach entfaltet sich eine hypnotische Stimmung. Es ist fast ein Ritual, das die erboste Mutter plötzlich energisch durchbricht: "Hör' auf, mit der Kerze zu spielen!" Von da an kippt die Stimmung in der Familie beängstigend, es kommt zu einem unheimlichen psychischen Verwandlungsprozess, der das betroffene Publikum nicht mehr loslässt.
Die Zeit des letzten großen Aufräumens ist gekommen. Auf der Bühne sieht man das Haus der Familie Demeester, das jedoch auch die Wohnstätte der Familie Peeters/Miller sein könnte. Sie rekonstruieren den mysteriösen Fall der Familie Demeester. Die Mutter stellt kurz vor der Tat ihrem Mann noch einmal viele Fragen: "Ist die Versicherung geklärt? Wasser, Elektrizität, Garage?" Man sieht zuletzt, wie die Schlingen an den Balken des Hauses befestigt werden und wie sich die Eltern mit ihren beiden Töchtern auf Stühle stellen, um dann in die Tiefe zu stürzen. Das Ganze wirkt beängstigend realistisch, eigentlich unfassbar.
Doch im Todeskampf besteht auch Hoffnung. Zuvor ist es zwischen der Mutter und den aufgebrachten, weinenden Töchtern noch einmal zu einem heftigen Konflikt gekommen: "Ich habe Angst!" Danach gibt es keinen starken Kampf mehr, das Licht erlischt. Überzeugend ist bei dieser Inszenierung in niederländischer Sprache mit englischen Übertiteln vor allem das virtuose Spiel mit verschiedenen Zeitebenen. Dabei kommt es auch zu einer visuellen Vermischung. Die Aufführung erfolgte im Rahmen von "10 Tage freischwimmen" als Festival-Doppel der Freien Darstellenden Künste Stuttgart (Choreographie: Peter Seynaeve; Musik: Saskia Venegas Aernouts).
Langer Schlussapplaus, auch "Bravo"-Rufe.