Es ist keine zusammenhängende Erzählung, sondern einzelne, vielfältige Szenen, die den Kosmos Stadt, wie er sich auf den Straßen der Metropolen findet, widerspiegelt und der das urbane Leben mitunter poetisiert und ironisiert. Die Vielstimmigkeit der Stadt, die Geräusche der Menschen und Maschinen klingen verfremdet an. Auf den Straßen rennt man, geht an einander vorbei, begegnet sich, bewegt sich synchron und asynchron, reiht sich ein, geht sich aus dem Weg, kreuzt den Weg, verliebt sich, dreht durch. Individuum, Gruppen und Menschenansammlungen, zufälliges oder geplantes Zusammenfinden finden parallel statt. Zwischen Hektik und Geschwindigkeit gibt es auch Momente des Innehaltens, der Stille.
Das Individuum scheint als moderner Mensch in der Masse aufzugehen, anonym zu sein, und versucht sich durch außergewöhnliches Verhalten zu exponieren, aus den scheinbar repetitiven Verhaltensmustern auszubrechen. Mehrmals taucht ein Umzugskarton auf, Fremdheit und Heimat andeutend? Eine Frau mit übergroßer schwarzer Sonnenbrille erscheint immer wieder unvermutet, eine andere liebt Fächer. Eine Frau mit überlangem blondem Haar wird von ihren Begleitern schwebend durch die Straßenschluchten getragen. Eine Riese tritt auf. Ein Hutspiel, indem immer der eigene Hut an einen andern Kopf weitergereicht wird, findet statt. Papierflieger segeln aus der Höhe herunter. Nebel wie aus New Yorker U-Bahn-Schächten wabert über die Bühne, Menschen häufeln sich, quasi nackt, skulptural übereinander. Plötzlich raufen sich Männer und Frauen zusammen und positionieren sich bedrohlich vor einem Mann in der Mitte der ersten Zuschauerreihe, starren ihn bedrängend an, eine Umkehrung der Rollen von Akteuren und Zuschauern. Unsicherheit entsteht, die dann auch weiter irritiert als sie beginnen ihm Küsschen zuzuwerfen.
Mit den "Drei Horatier Songs" von Heiner Müller, vorgetragen von der Sopranistin Tamara Lukasheva, wird historisch auf einen Kampf zweier antiker Städte zurückgeblickt, der durch zwei der Gegnerparteien angehörenden, aber verwandtschaftlich verbundenen Männer als Surrogate für den Krieg der Armeen ausgetragen wird, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, aber trotzdem eine individuelle Schuld zurücklässt.
Zum Abschluss verausgabt sich ein Mann, singend, tanzend, zuckend wie unter Strom stehend, dem ein rennendes Mädchen aufgefallen ist und der sich fragt, weshalb sie so rannte.
Zu Heiner Goebbels 1994 entstandenem, großartigem, vielstimmigem Werk "Surrogate Cities" mit Live Orchester und gesampelten Klängen, sowie mit Textbearbeitungen und Leseanregungen von Heiner Müller, Paul Auster, Franz Kafka und Hugo Hamilton hat Demis Volpi eine ebenso stimmige Choreographie kreiert, die sowohl in den quirligen großen Gruppenszenen, den intimeren Kleingruppen als auch in den diversen Soli und Pas de deux überzeugend das urbane Lebensgefühl widerspiegelt.
Ein sehr beeindruckendes Stück, das man eigentlich mehrmals sehen müsste, um es aufgrund seiner Komplexität in allen Fassetten erfassen zu können. Mit euphorischem Beifall wurden dann auch die überragenden Leistungen aller Mitwirkenden bedacht.
Musikalische Leitung: Vitali Alekseenok
Choreographie: Demis Volpi
Musik: Heiner Goebbels
Bühne: Katharina Schlipf
Kostüme: Thomas Lempertz
Licht: Elana Siberski
Dramaturgie: Julia Schinke
Sopran: Tamara Lukasheva
Soloposaunist: Matthias Muche
Akrobatin: Susanne Kahl
TänzerInnen:
Camilla Agraso, Paula Alves, Joaquin Angelucci, Yara Araujo De Azevedo, Daniele Bonelli, Yoav Bosidan, Jack Bruce, Gustavo Carvalho, Maria Luisa Castillo Yoshida, Wun Sze Chan, Lara Delfino, Orazio Di Bella, Sara Giovanelli, Philip Handschin, Futaba Ishizaki, Charlotte Kragh, Evan L'Hirondelle, Samuel López Legaspi, Nelson López Garlo, Norma Magalhães, Pedro Maricato, Miquel Martínez Pedro, Neshama Nashman, Clara Nougué-Cazenave, Rose Nougué-Cazenave, Marco Nestola, Emilia Peredo Aguirre, Ako Sago, Dukin Seo, Courtney Skalnik, Kauan Soares, Edvin Somai, Damián Torío, Andrea Tozza, Vinícius Vieira, Elisabeth Vincenti, Imogen Walters, Long Zou
Düsseldorfer Symphoniker