Skepsis schien angebracht bei all dem Hype, der im Vorfeld um die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Salzburger Festspiele entfacht worden war: Vielversprechender Auftakt für das bislang einzigartige Projekt, alle zweiundzwanzig Bühnenwerke Wolfgang Amadeus Mozarts in dessen Gedenkjahr aufzuführen, Projektion der Vorstellung auf Großleinwände, Live-Übertragung im Fernsehen (mit Harald Schmidt als alertem Opernführer), das zum "Haus für Mozart" umgebaute Kleine Festspielhaus, dazu der alljährliche Massenaufmarsch der immer hart am Rande der Selbstkarikatur (und manchmal darüber hinaus) agierenden Promis - und natürlich die mirakulöse Anna Netrebko als allgegenwärtigem Kultobjekt. Es hat schon andere Anlässe gegeben, bei denen das künstlerische Ergebnis weit hinter solch großem Erwartungsdruck zurückgeblieben ist...
Und tatsächlich enttäuschte dieser Salzburger "Figaro" auf der ganzen Linie - aber nur jene, die heiteres Sommertheater, dekorativen Kulissenzauber und "apollinischen" Wohlklang erwartet hatten. Dass von letzterem an keiner Stelle der Aufführung die Rede sein konnte, dafür sorgte Nikolaus Harnoncourt, dessen tiefschürfendes, von wuchtigen Akzenten und gemessenen Tempi geprägtes Dirigat so manche bislang kaum gehörten Abgründe und Untiefen in Mozarts genialer Partitur auslotete. Unter seiner Leitung liefen die Wiener Philharmoniker zu einer orchestralen Höchstleistung auf, die den klanglichen Facetten der Musik nichts schuldig blieb.
Nahezu makellos auch das hervorragend besetzte Sängerensemble, bei dem Anna Netrebko zwar die größte Prominenz für sich beanspruchen konnte, aber keineswegs zum Star des Abends avancierte. Dies hing einerseits mit der Rolle der Susanna zusammen, die in Mozarts Oper längst nicht so dominant ist wie jene Traviata Verdis, mit der die Sängerin zuletzt in Salzburg Triumphe feierte. Andererseits wollte das von der Regie dieser Partie zugeschriebene hochdifferenzierte, gespaltene und widersprüchliche Charakterprofil nicht so recht zum eher harmonischen Naturell der Sängerin passen. Dies gilt auch für den Figaro von Ildebrando d'Arcangelo, der, ebenso wie die Netrebko, stimmlich zwar jederzeit zu beeindrucken wußte, szenisch jedoch ein wenig unverbindlich blieb.
Letzteres kann man von Dorothea Röschmann (Gräfin) und Bo Skovhus (Graf Almaviva) nicht behaupten, die in ihren jeweiligen Partien den von der Inszenierung geforderten Typ des Sänger-Schauspielers mit großer Eindringlichkeit und stimmlichem Glanz auf die Bühne brachten. Was in dieser Hinsicht möglich ist, zeigte Christine Schäfer, die als Cherubino mit einer charakterdarstellerischen und am Ende zu Recht umjubelten Fabelleistung aufwartete, wie man sie so selbst in Salzburg lange nicht mehr erleben konnte. Dies hing freilich auch mit der Konzeption dieser Rolle zusammen, die kaum jemals so getrieben und gleichzeitig so verletzlich aufgefasst worden ist.
Tatsächlich kann Claus Guths Inszenierung als Meilenstein der Interpretationsgeschichte eingestuft werden. So ernst, bohrend und unheimlich, so bar aller vordergründigen Heiterkeit und Situationskomik ist bis dato wohl noch kein "Figaro" auf die Bühne gebracht worden. Im kargen, beinahe farblosen und sehr sparsam historisierenden Bühnenbild Christian Schmidts ist kein Platz für heiteres Versteckspiel und Kulissenschieberei, alles ist auf das Mit-, Gegen- und Nebeneinander der handelnden Personen konzentriert. Türen und Treppen führen in Räume, die man sich nicht als Orte wohnlicher Behaglichkeit, sondern allenfalls als Schauplätze von Alpträumen vorzustellen vermag.
Traumspielartiges haftet vor allem der von Guth eingeführten stummen Figur des "Cherubim" (Uli Kirsch) an, äußerlich ein Doppelgänger des Cherubino, dramaturgisch aber der (fast) allmächtige Spiritus rector des Geschehens, eine Art Eros, der wie ein Marionettenspieler die Bewegung der Figuren kontrolliert und immer wieder auf einander zu, aneinander vorbei und oft genug ins Leere laufen läßt. In dieser zynischen Welt, bei der Strindberg und Bergman Pate gestanden haben, kann und will jeder mit jedem, aber keiner ist glücklich dabei. Auch der Schlußakt, von Mozart/da Ponte eigentlich in einem Garten angesiedelt, führt bei Guth nicht ins Freie. Und welchen Weg die Beteiligten, die, wie aus einem Wahn erwachend, den verhängnisvollen Cherubim am Ende davonjagen, in Zukunft finden werden, bleibt offen. Dass Mozarts Musik all dies trägt, ist nicht das kleinste Mirakel dieser grandiosen Festspielproduktion.
Regie: Claus Guth
Premiere: 26. Juli 2006
Weitere Vorstellungen: alle ausverkauft