Ästhetisch treffen in "Ruß" zwei Welten aufeinander. Die US-amerikanische Bergarbeitertradition der 1940er Jahre wird dabei mit einem Rückblick auf die Blütezeit des deutschen Steinkohleabbaus im Ruhrgebiet verwoben. Bridget Breiner gibt dabei einen Hinweis auf ihre eigene Herkunft. Die im Bühnenbild verbauten Metallkörbe sind typisch für die Zechen des Ruhrgebiets und dienten als Vorgänger für Spinde. In Bridget Breiners Fassung ist der Prinz allerdings weniger ein Ritter in weißer Rüstung, sondern ein Sohn des ansässigen Industriemagnaten. Es gibt gewisse Assoziationen zu dem Bösewicht J.R. Ewing aus der berühmten Fernsehserie "Dallas".
Interessant ist an diesem besonderen Abend auch die musikalische Collage aus Live-Musik und diversen Einspielungen. So hört man einerseits die farbenreiche Ballettmusik "Aschenbrödel" von Johann Strauss (Sohn) sowie US-amerikanische Arbeiter- und Protestlieder von Woody Guthrie, Hazel Dickens, Nina Simone und Sarah Ogan Gunning in der Karlsruher Neufassung. Zeitgenössische Werke für Akkordeon bilden die dritte Klangwelt des Abends. Ein zentrales Motiv dieses Balletts ist die Eifersucht und der Neid. Denn die von Francesca Berruto nuancenreich getanzte Livia entdeckt in ihrer neuen Schwester Clara (feingliedrig: Carolina Martens), dem Aschenputtel, ihr Gegenstück und ihre Rivalin. Alles wirkt hier unbeschwerter und freier. Bewunderung und Faszination verwandeln sich im Laufe der Handlung in Eifersucht.
Für Livia ist dies eine schwere Herausforderung, die tänzerisch souverän dargestellt wird. Olgert Collaku tanzt als J. R. Prince, Sohn eines Industriebarons, kunstvolle Pirouetten - und zusammen mit Clara tanzt dieser auch einen eindringlichen Pas de deux. Alba Nadal verkörpert facettenreich die Mutter von Livia und Sophia, während Sara Zinna die weitere Schwester Sophia mit vielen verschiedenen Nuancen darstellt.
Zwischen Spitzenschuh und Bergarbeiterstiefel verwandelt Bridget Breiner das alte Märchen zu einer modernen Familiengeschichte mit psychologischen Einsichten. Und im zweiten Akt kommt es zu einer starken Veränderung der Handlung. Auf dem Ball zerbricht nämlich Livias Traum vom Glück und wenigen Augenblicken. Ihr gelingt es nicht, das Interesse des Industriellensohns zu wecken. Als Clara im Tanzsaal erscheint, um ihrem Vater beizustehen, ist der J. R. Prince von der Natürlichkeit des rußbeschmierten Mädchens wie verzaubert. Das Aschensputtel hat seinen Prinzen gefunden. Livia, die alleine zurückbleibt, schafft es, sich nach einer letzten Konfrontation mit ihrer Mutter von dieser zu befreien. Damit findet sie ihr eigenes Glück. Sie ist eine Gewinnerin.
So ist eine aufregende Geschichte von Schmutz, Ruß und "rags to riches" ("vom Tellerwäscher zum Millionär") entstanden. Ledian Soto stellt zudem Mitch dar, der einzige, der an Livias Seite zu stehen scheint. Den Vater von Clara tanzt souverän Joshua Swain. Hinzu kommen noch Arbeiter, Ballgäste und das subtile Akkordeonspiel von Hugo Degorre. 2013 erhielt Bridget Breiner für ihr Ballett "Ruß - Eine Geschichte von Aschenputtel" den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie "Beste Choreographie".
Jubel und viel Applaus für diese eindrucksvolle Performance. Das Grimmsche Märchen einmal anders.