Orfeo: Die ideale Vorlage
Der antike Mythos bietet die perfekte Folie für eine Art des Verschwindens, die unsere Gesellschaft derzeit stark beschäftigt: Warum erliegen – immer wieder auch Frauen – der Faszination des IS? Warum reisen so viele junge Menschen in die Bürgerkriegsgebiete des Nahen Ostens, um sich Terroristen anzuschließen? Und wie kann es gelingen, sie wieder zurückzuholen und vom Wert der Demokratie und des Friedens zu überzeugen? In dieser Neuinterpretation des Stoffes will Orfeo Eurydike folgerichtig aus der Verstrickung in den IS befreien. Die Grundlage schafft eine Collage aus Vertonungen und Texten. Dazu gehören Bearbeitungen von Claudio Monteverdi, Carl Heinrich Graun, Christoph Willibald Gluck und Joseph Haydn ebenso wie gesprochene Passagen aus Büchern von Khalil Gibran, Abu Temmam, Orhan Pamuk und Frauen für den Dschihad. Dieses Manifest der Al-Khansaa-Brigade, einer rein weiblichen Einheit der Terrororganisation IS, beschreibt den Alltag und die Rolle der Frauen im selbsternannten Kalifat.
Orfeo: Eine neue Perspektive
Auf der Bühne hat sich Zuflucht Kultur in den vergangenen Jahren intensiv mit persönlichen Geschichten von Flucht und Ankunft in Deutschland, dem mühsamen Weg zu Anerkennung und Integration auseinandergesetzt. Wie Orpheus wenden wir mit dieser Produktion den Blick zum ersten Mal in die entgegengesetzte Richtung. Was ist mit den (jungen) Menschen, die den Frieden und die Sicherheit Europas ablehnen? Die heimlich ausreisen in die Kampfgebiete des Nahen Ostens – in merkwürdige, zerbombte Transitzonen, die nach Jahren des Bürgerkriegs tatsächlich mehr der Unterwelt gleichen als den pulsierenden Metropolen, die sie einmal waren. Der schlichte Bühnenraum bietet die ideale Location für dieses Setting: Ein paar Gebäudereste aus Beton – irgendwo zwischen Ruine und Wohlstandsmüll – schaffen zusammen mit Videoprojektionen zusätzliche Erzähl-Ebenen, zwischen Leben und Tod, zwischen Krieg und Frieden.
Orfeo: Ein Orpheus für unsere Zeit
Al-Mustafa sitzt am Meer und wartet. Bei ihm ist eine Gruppe Geflüchteter. Er erzählt ihnen eine Geschichte über die Liebe und den Tod. Orfeos Geliebte Eurydike ist plötzlich in einen religiösen Wahn verfallen und ist verschwunden. Sie wird in Syrien gesehen, mitten im Kriegsgebiet. Ist sie etwa freiwillig dort? Auf den Rat von Amor und Al-Mitra folgt ihr Orfeo dorthin. In den zerstörten Städten zwischen all den Toten findet er sie schließlich. Da stellt Pluton eine harte Bedingung: Auf dem ganzen Heimweg kein einziger Blickkontakt zwischen den zwei Liebenden.
Der Untertitel „Eine transkulturelle Oper“ weist nicht nur auf die vielfältigen musikalischen Quellen hin, aus denen sich das Programm speist und die Claudio Monteverdi, C. W. Gluck, C. H. Graun und Joseph Haydn mit arabischem Rap und orientalischen Volksliedern kombinieren. Die Koproduktion mit dem Hofspielhaus München vereint Zukunft Kultur-typisch ein buntes interkulturelles Team aus Opernprofis und geflüchteten Darstellern auf der Bühne – beziehungsweise in diesem Fall in dem großen, frei geräumten Kirchenraum von St. Jakob.
Zukunft Kultur ist glücklich, Orfeo gerade an dieser Spielstätte zeigen zu können! Beide Organisationen verbinden die gleichen Werte und Schwerpunkte: der Dialog der Kulturen und die Überzeugung, dass unsere Gesellschaft nichts nötiger hat als Toleranz und Mitmenschlichkeit.
ber Zukunft Kultur e.V.
Così fan tutte (Oktober 2014), ZAIDE.EINE FLUCHT. (August 2015), Idomeneo (Juli 2016), Carmen (September 2017) und zuletzt Orfeo (März 2018): Mit beinahe unheimlichem Timing halten die Opernproduktionen von – damals noch Zuflucht Kultur genannt – der Entwicklung der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa den Spiegel vor.
Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, mit und durch Kultur Brücken zwischen Geflüchteten und der einheimischen Bevölkerung zu bauen. Er arbeitet zuallererst künstlerisch im Bereich Oper, organisiert aber auch eine Vielzahl von politisch-sozialen Auftritten mit Projektchören und -Ensembles. Anfang September 2015, kurz nach Öffnung der deutschen Grenzen für in Südosteuropa festsitzende Flüchtlinge, gastierte der ChorZuflucht beim Bürgerfest des Bundespräsidenten auf Schloss Bellevue; außerdem war er im ZDF bei Markus Lanz und Johannes B. Kerner zu erleben. In diesen bewegten Zeiten erreichten und erreichen die Macher laufend weitere Einladungen von Institutionen, die sich für Menschenrechte einsetzen: Unter anderem stand der Chor beim europäischen Konsultationstreffen des World Humanitarian Summit der Vereinten Nationen und bei der Eröffnung der Generalversammlung der International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies auf der Bühne, beides in Genf. Mit Auftritten wie diesen gelingt es Zukunft Kultur und seinem Chor so auch auf internationaler Ebene, das viel diskutierte Thema „Flüchtlinge“ mit starken, hoffnungsvollen Projekten zu verbinden. Der bislang schönste Erfolg der Arbeit: Das ZDF-Format Die Anstalt erhielt für die Sendung mit dem syrischen Flüchtlingschor Zuflucht den Grimmepreis 2015 „für den Moment der Echtheit und Wichtigkeit“. Eben diese Ausgabe wurde noch ein zweites Mal geehrt. Die deutsche Sektion von Amnesty International zeichnete sie mit dem Marler Medienpreis für Menschenrechte 2015 aus. Der Verein wurde aber auch direkt ausgezeichnet – mit dem Förderpreis der Pill Mayer Stiftung für interkulturellen Dialog 2016.
Im Mai 2018 vollzog Zuflucht Kultur die Namensänderung in Zukunft Kultur, um den veränderten Lebensumständen der ehemals Geflüchteten, nun aber zunehmend Angekommenen gerecht zu werden und den Blick auch auf andere gesellschaftspolitische Themen zu richten.
Mehr Informationen: www.zukunft-kultur.de
Monteverdi, Graun, Gluck, Haydn
Orfeo. Eine transkulturelle Oper
Eine Gemeinschaftsproduktion von Zukunft Kultur e.V. und Hofspielhaus München
Regie: Annette Lubosch
Bühne: Annette Lubosch, Peter Schultze und Jonas Klein (Graffiti)
Kostüme: SWR / Christiane Brammer
Dramaturgie: Sascha Fersch
Orfeo: Cornelia Lanz (Mezzosopran)
Eurydike: Sela Bieri (Sopran)
Al Mustafa: Ayden Antanyos (Schauspieler)
Al Mitra: Wisam Kanaieh (Sängerin, Sprecherin)
Amor: Walaa Kanaieh (Sängerin, Sprecherin)
Pluton: Maher Hamida (Rapper, Sprecher)
Musikalische Leitung / Piano / Akkordeon: Norbert Groh
Violine: Esther Schöpf