Kunst ist die kritische Reflexion einer Gemeinschaft. Aber Kunst bedeutet auch emotionale erste Hilfe: Sie praktiziert Fürsorge für die Verwundeten, schafft Empathie mit den Gefährdeten und betreibt Empowerment der Unterdrückten. Doch welche Möglichkeitsräume für Gemeinschaften und Netzwerke lassen sich heute künstlerisch entwerfen – trotz oder gerade angesichts prekärer Lebensverhältnisse, Unsicherheit und Zukunftsängsten? Wie kann man sich in diesen distanzierten Zeiten gegenseitig Halt geben? Wer fällt durch die Sorgenetze durch? Bei wem kehren sie sich in ihr Gegenteil, in Wut oder sogar Hass um? Wer macht die unbezahlte Care-Arbeit, wer hat die Ressourcen, Sorgenetze zu flechten? Und schließlich: Wie könnte eine Praxis des caring with in einer Welt aussehen, die mehr-als-menschlich ist – mit Körpern, Pflanzen, Tieren, Dingen?
Während des Lockdowns unterschied Bojana Kunst in einem Letter to the performance artist jene Form von Care, die sich von Sorgfalt herleitet, von jener Form, die Fürsorge als konkret-materielle, leibliche Handlungen meint, mit der wir uns in der Unordentlichkeit und Ungerechtigkeit des Lebens die Hände und Körper schmutzig machen. In diesem Brief schlug sie vor, den Fokus von Kritik auf Care zu verschieben, von der kritischen Haltung zu einer fürsorgenden Praxis. Dabei bedeutet Fürsorge nicht einfach nett zu werden. »Sorgetragen ist auf allgemeinster Ebene eine Tätigkeit, die alles umfasst, was wir tun, um unsere >Welt< so zu bewahren, fortdauern zu lassen und zu reparieren, dass wir so gut wie möglich in ihr leben können«, schrieben Joan C. Tronto und Berenice Fisher. »Diese Welt schließt unseren Körper, unser Selbst und unsere Umwelt mit ein, die wir in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz miteinander verflechten«.
Fürsorge und Selbstfürsorge sind damit Kreuzpunkte eines gemeinschaftlichen Handelns, das die Frage aufwirft: Was bedeutet und was kostet es, (sich) eine lebbare Welt zu bauen: persönlich und politisch? So meint der Fokus auf Care nicht die Verstummung der Kritik, sondern die Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit und damit die Dekonstruktion einseitiger Machtverhältnisse. »Für mich selbst zu sorgen ist kein persönlicher Luxus«, insistierte Audre Lorde: »Es ist Selbsterhalt und damit ein Akt politischer Kriegsführung«.
Verwundbare Abhängigkeit (von Infrastruktur, von Familie und Freund*innen, von Umwelt und von Maschinen) wird oft mit Schwäche verbunden. Necati Öziri fordert diese Vorstellung zu unterlaufen: »Im besten Fall verstehen wir Verletzlichkeit und Abhängigkeit, nicht mehr als Schwäche von Einzelnen, sondern als etwas wie diesen Planeten: Etwas, das uns alle als sterbliche Kreaturen und zugleich als Teilhaber eines größeren sterblichen Organismus ausmacht«.
Das Schauspielhaus Wien lädt Nachwuchsautor*innen ein, in ihrem eigenen Zugriff auf oder in Abstoßung von diesen Fragestellungen und Gedanken Schreibvorhaben und Stückentwürfe für Aufführungen zu entwickeln und sich für das Hans-Gratzer-Stipendium zu bewerben.
Vom Workshop zur Entwurfspräsentation
Das Stipendium umfasst einen mehrphasigen Schreibworkshop, der Gelegenheit gibt, im gemeinsamen Entwicklungsprozess und unter intensiver Begleitung durch eine*n Mentor*in an eigenen Stückentwürfen zu arbeiten. Der Workshop soll außerdem ein Forum bieten, um Konzepte und Bedingungen von Autor*innenschaft und zeitgenössischem Autor*innentheater zu befragen. Fünf Autor*innen bzw. Autor*innenteams erhalten das Stipendium und nehmen kostenlos an Workshops in Wien teil. Reise- und Unterkunftskosten werden ebenfalls übernommen.
2021 ist Necati Öziri Mentor des Hans-Gratzer-Stipendiums. Er ist aktuell Dramaturg des Theatertreffens der Berliner Festspiele und Leiter des internationalen Forums, sowie Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Seine Theaterstücke sind von einer kritischen Auseinandersetzung mit struktureller Diskriminierung, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Institutionen geprägt. Von 2013 bis 2017 hat Necati Öziri als Teil der Dramaturgie des Maxim Gorki Theaters und später als künstlerischer Leiter des Studio Я die Intendanz von Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater in Berlin mitgestaltet, wo er mehrere Schreibwerkstätten unter der Schirmherrschaft des von Maxi Obexer und Sasha Marianna Salzmann gegründeten Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben (NIDS) mitinitiierte.
Im April 2021 werden die Stückentwürfe der Stipendiat*innen als Kurzhörspiele auf der Website des Schauspielhaus Wien öffentlich zugänglich gemacht.
Werkauftrag
Einer der Entwürfe wird nach der Präsentation von einer Jury und dem Publikum prämiert. Die*der Autor*in erhält einen finanzierten Werkauftrag in Höhe von 7.000 Euro. Das Stück wird in der Spielzeit 2021/22 am Schauspielhaus zur Uraufführung gebracht. Die Tantiemen der ersten zehn Vorstellungen sind mit dem Preisgeld abgegolten.
Bewerbung
Autor*innen (mit und ohne Schreiberfahrung für Theater), die in deutscher Sprache schreiben, senden bitte bis zum 04.12.2020 folgende Unterlagen ausschließlich per E-Mail an: hans-gratzer-stipendium@schauspielhaus.at
Bitte fügen Sie sämtliche Dokumente zu einem PDF zusammen.
• Exposé Ihres Schreibvorhabens im Rahmen des Hans-Gratzer-Stipendiums (max. 3 Seiten)
• erste exemplarische Szenen bzw. Textauszüge (max. 10 Seiten)
• Arbeitsnotizen / Recherchetagebuch über 14 Tage, die dokumentieren, wie Sie sich dem Thema Ihres geplanten Stückes angenähert haben. Welche Fragen haben sich Ihnen gestellt? Welche Medien, welche Literatur haben Sie benutzt, welche künstlerischen Referenzen sind für Sie wichtig? (max. 5 Seiten)
• eine repräsentative Arbeitsprobe Ihres bisherigen Schreibens
• einen detaillierten Lebenslauf
Termine
Einsendeschluss: 04.12.2020
Autor*innen-Workshops in Wien: 29.01.-31.01.2021 und 02.04.-04.04.2021 (tbc)
Präsentation der Entwürfe: April 2021
Das Hans-Gratzer-Stipendium ist ein Projekt des Schauspielhauses Wien in Zusammenarbeit mit literar mechana, mit freundlicher Unterstützung von Lukoil
Alle Informationen unter: schauspielhaus.at/schauspielhaus/autorinnenfoerderung