«Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. ‹Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen›: erster Satz meiner Ästhetik. Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch: sie bleibt dabei populär – sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich, sie ist präzis. Sie baut, organisiert, wird fertig...». Zwar hat Friedrich Nietzsche sein Lob der hochbewunderten «Carmen» vor allem in der Abgrenzung von den Werken Richard Wagners geäussert, aber das Urteil bleibt gültig, charakterisiert die Vielfalt dieser Musik, in der helle Lyrik, strahlende Unbekümmertheit und Humor ebenso zu finden sind wie Dämonie und abgrundtiefe Dramatik. Eine mediterrane Klarheit paart sich mit Sinnlichkeit, die nie schmalzig wird. Nichts an der «Carmen»-Partitur ist konventionell, alles ist von einer unmittelbaren, ungestümen Originalität in Einfall und Ausführung.
Dabei war Bizets Oper der Erfolg nicht an der Wiege gesungen worden: Bei der Uraufführung in der Salle Favart der Pariser Opéra-Comique am 3. März 1875 fiel die Geschichte von der freiheitsliebenden Zigeunerin Carmen, die sich rigoros über die Besitzansprüche der Männerwelt hinwegsetzt und das Recht auf Selbstbestimmung bis zu ihrem Tod verteidigt, beinahe durch. Der Text von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper Mérimée war dem Publikum zu drastisch realistisch, die Musik zu «wagnerisch». Dabei haben die Librettisten die bei Mérimée mit dem Unterton leiser Ironie behandelten Charaktere und die manchmal ans Triviale grenzende Handlung schon erheblich gemildert und idealisiert. Und mit Wagner hat Bizet wirklich nichts zu tun – ausser dass er eine Art von Schicksalsmotiv mit einer, weil auf einer «Zigeunertonleiter» beruhenden, eigenartigen und höchst einprägsamen Tonfolge sich als Leitmotiv durch die ganze Oper ziehen lässt. Als Skandal empfand man, dass Bizet und seine Librettisten nicht nur gegen den herrschenden Stil, die Konventionen der opéra comique verstossen hatten, die eigentlich keine wirkliche Tragödie duldete, sondern vor allem auch die engen Grenzen des bürgerlichen «guten» Geschmacks zu weit überschritten hatten. Insbesondere der offensive und mitunter sogar handgreifliche Realismus erschien dem Publikum von 1875 zunächst als zu grell, zu vulgär und unopernhaft, da hier jede Art von romantischer Einfühlung, Versenkung oder sentimentaler Hingabe unmöglich schien.
Obwohl Bizet nie spanischen Boden betreten hat, gilt «Carmen» als Schlüsselwerk für eine Stilrichtung, die sich durch die französische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts wiederfindet – den sogenannten «Hispanismo». Viel ist über das spanische Element in Bizets Musik geschrieben worden, doch im Grunde geht, wie Winton Dean in seiner Bizet-Monografie schreibt, «die gesamte spanische Frage an Bizets eigentlichen Absichten vorbei. Ein Komponist, der seine Musik in einer bestimmten Gegend spielen lässt, muss ja nicht auch gleich die Musik des Landes nachahmen. Es genügte, dass Bizet für französisches Publikum eine spanisch erscheinende Atmosphäre schuf; ansonsten konnte er nichts Besseres tun, als französische Musik zu schreiben.» Bizet hat ein Phantasie-Spanien entworfen, indem er aufgriff, was im 19. Jahrhundert in Paris als «spanisch» galt. Der Ausgangspunkt dafür war ursprüglich möglicherweise sogar authentische Musik, doch blieben bei deren Anverwandlung an das gewohnte mitteleuropäische Idiom nur Spuren des Ursprünglichen übrig – und mitunter nicht einmal diese. Zudem wurden sie wahllos mit Elementen aus anderen Ländern vermischt. Carmens Auftrittslied ist eine Habanera, ein Tanz, der aus Kuba stammt und nicht aus Spanien. Bizet dürfte die Habanera jedoch für spanisch gehalten haben, da die Vorlage für die Habanera in der Oper von dem spanischen Komponisten Sebastián de Iradier (1809-1865) stammt.
Die Instrumentation in «Carmen» ist oft gerühmt worden. Charakteristisch ist die Aussage von Richard Strauss, der gegenüber seinem Dirigentenkollegen George Szell äusserte, dass er, wenn ein junger Komponist ihn um einen Rat frage, diesem rate: «Wenn Sie Orchestrierung lernen wollen, studieren Sie nicht Wagners Partituren, studieren Sie ‹Carmen›... Wie phantastisch sparsam! Wie jede Note an der richtigen Stelle untergebracht ist!». Bizets Absicht war stets, die Klanglichkeit durchsichtig zu halten, und er setzte auf das Wechselspiel der Kräfte. Sein Orchester, so Winton Dean, «gibt den Personen die Luft zum Atmen», seine Instrumentation vereint die scharf profilierte, machtvolle Kunst eines Berlioz mit der Anmut und Sparsamkeit der Mozartschen Partiturgestaltung – eine anspruchsvolle Aufgabe für jeden «Carmen»-Dirigenten.
Das vermeintlich wohlbekannte Werk wird unter der musikalischen Leitung von Franz Welser-Möst und in der Regie von Schauspielhaus-Direktor Matthias Hartmann neue Akzente bekommen. Eine besondere Ehre ist es, dass Vesselina Kasarova ihr Debüt als Carmen für Zürich reserviert hat. Ebenso freuen darf man sich auf den Don José von Jonas Kaufmann, der bei seinem letztjährigen Rollendebüt in London mit Ovationen gefeiert wurde.