Heinrich von Kleist zeigt in seinem ersten Theaterstück "Die Familie Schroffenstein", fast archaisch anmutend, wie aus bloßen Vermutungen Misstrauen erwächst, das schleichend zu Missverständnissen, Zwist, Mord, Rache und Vergeltung führt. Anlass dazu ist ein Erbvertrag zwischen zwei Linien der Familie Schroffenstein, der von Rossitz und der von Warwand, der besagt, dass nach dem Aussterben der einen, die andere den Besitz übernimmt.
Das Stück ist zugleich Kriminalfall, in dem der Tod von Ruperts Sohn Peter aufgeklärt wird, und Liebesgeschichte mit Anmutungen an Romeo und Julia, denn die Kinder der verfeindeten Linien, Ruperts Sohn Ottokar und Sylvesters Tochter Agnes, verlieben sich in einander, werden durch einen vollzogenen Kleidertausch verwechselt und von ihren eigenen Vätern gemordet.
Stephan Rottkamp hat in seiner Inszenierung für das Schauspielhaus Düsseldorf einen Prolog eingeführt, dessen Text einem Brief Heinrich von Kleists an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge entnommen ist und der das Thema seines Stückes in nuce enthält, nämlich die Frage danach, wie weit man durch eine beschränkte Sichtweise daran gehindert wird, die Wahrheit zu erkennen, also ein erkenntnistheoretisches Problem.
Das eher zähe, düstere Stück gewinnt durch Rottkamps beherzte Textkürzungen. Sein Einfallsreichtum ist schier unermüdlich. So hat er die Hauptpersonen mit den gleichen Schauspielern besetzt: Wolfram Rupperti spielt sowohl den unnachgiebigen, rachsüchtigen Rupert von Schroffenstein aus dem Hause Rossitz, wie auch Sylvester von Schroffenstein, den friedliebenden, besänftigenden Grafen aus dem Hause Warwand; Christiane Rossbach ist sowohl Ruperts Gattin Eustache, die Rupert eher besänftigen will, als auch Sylvesters aufstachelnde Frau Gertrude. Diese überkreuzten Spiegelungen finden sich im Bühnenbild wieder als zwei Häuser auf einer Drehbühne, nur durch eine Vorhangwand getrennt. Das Spiegelbild als Motiv der Illusion wird quasi explizit zum Leitmotiv, als Rupert sich in einer Quelle gespiegelt sieht und ihm daraus eine Teufelsfratze entgegenblickt.
Die Komplexität des Kleistschen Textes wird durch Rosskamps Regiearbeit in ihrer ganzen Breite verdeutlicht. Neben der düsteren Rachegeschichte spielen mit zauberhafter Leichtigkeit, fast möchte man sagen durchleben Janina Sachau als Agnes und Milian Zerzawy als Ottokar ihre Liebesgeschichte. Die Hexenszene mit Michele Cuciuffo als Barnabe und Christoph Müller als Ursula ist gewollt burlesk gezeichnet und gemahnt an die Tradition der Shakespeare-Bühne, mit dem dramaturgischen Effekt, die Spannung zu durchbrechen. Das Mittel der Textwiederholung nutzt Rosskamp dagegen geschickt, um die Spannung zu steigern.
Dass Rottkamps Regiekonzept so wunderbar aufging, ist besonders der hervorragenden schauspielerischen Leistung des ganzen Ensembles zu verdanken. Gebannt sah man der 2 1/4-stündigen Aufführung, ohne Pause, zu. Nicht einer der sonst üblichen Huster war zu hören. Ein verdienter, langanhaltender, begeisterter Applaus am Premierenabend.
Inszenierung: Stephan Rottkamp
Bühne: Robert Schweer
Kostüme: Ulrike Schulze
Musik: Cornelius Borgolte
Darsteller: Michele Cuciuffo, Denis Geyersbach, Anke Hartwig, Mariannne Hoika, Winfried Küppers, Christoph Müller, Christiane Rossbach, Wolfram Rupperti, Janina Sachau, Milian Zerzawy
Premiere am 18. Oktober 2008, 19.30 Uhr, Großes Haus
Die nächsten Termine: 18., 19., 24. Oktober. 04., 29., 30. November 2008