Er versteht sie nicht, sie versteht ihn nicht. Wie sollten sie auch? Verstehen sie sich selbst doch nicht. Dass Männer und Frauen Kommunikationsschwierigkeiten haben, ist alt bekannt.
Im Stück "Rausch" von Falk Richter und Anouk van Dijk wird dieses private Beziehungsgeflecht im ersten Teil in genau beobachteten Dialogen thematisiert. Das falsche Bild, das man sich vom anderen macht, wird in der modernen Variante durch Facebook gefördert: ein retuschiertes Foto und ein bar jeglicher Realität erstelltes Persönlichkeitsprofil führt zu Enttäuschungen, denn Psychosen, Ticks und Ängste werden ausgeblendet. All zu bald wird dann die Beziehung von der Realität eingeholt und alles Verschwiegene wird offenbar. Nicht eingestandene Wünsche, von denen man selbst nichts weiß, soll der andere gefälligst erahnen und erfüllen. Nach Feierabend wird an der Beziehung gearbeitet. Das ist ermüdend und so nimmt man sich eine Auszeit, geht auf Abstand, steigt gleich ganz aus der Beziehung aus. Von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Kein Wunder, dass Therapeuten und Coachs einen enormen Zulauf verzeichnen, wenn man an der Selbstoptimierung arbeiten möchte. Man redet sich wie im Rausch in Ekstase und findet Erfüllung in der Nicht-Erfüllung.
Unversehens wechselt die Perspektive vom privaten Bereich in die politisch öffentliche Ebene und man findet sich im Zeltlager der Occupy-Bewegung wieder. Anklage wird gegen die CDU/FDP, die Kirche, die Deutsche Bank erhoben, und gegen die Polizei, die in nächtlichen Überfällen auf das Lager mit Pfefferspray hantiert. Um sich gegen deren Angriffe zu wappnen und abzuhärten, setzt man sich gleich selbst dem Pfefferspray aus. Das Ganze hat Eventcharakter und erinnert an die "Wir sind dabei gewesen"-Glorifizierung der Alt-68er Aktivisten. Mal eben nebenbei wird kurz die aktuelle wirtschaftliche Misere und offenbare Systemfehler mit einfachen Schlagworten parodistisch abgehandelt.
Außer Kontrolle geraten, das ist es, was den Zustand des Rausches ausmacht. Diesen Rausch findet das Individuum nicht mehr in einer kontrollverliebten Gegenwart, in dem es nur noch um Konsum und den eigenen Marktwert zu gehen scheint. Und so findet Ekstase dann in der körperlichen Erfahrung statt, in der Bewegung, im sich verausgabenden Tanz. Denn diese Inszenierung wird nicht nur durch die Dynamik eines rhythmisierten Textes geprägt, sondern ganz entscheidend auch durch die Choreografie von Anouk van Dijk.
"Rausch" ist parodistisch und ironisch heiter. Es entwickelt einen ungeheuren Sog, weil mit sehr viel Wucht und Tempo gespielt wird. Am Schluss daher viel Beifall für die sieben Tänzer und fünf Schauspieler.
Besetzung / Team:
Peter Cseri
Lea Draeger
Cédric Eeckhout
Birgit Gunzl
Philipp Fricke
Angie Lau
Gregor Löbel
Steven Michel
Aleksandar Radenkovi?
Jorijn Vriesendorp
Thomas Wodianka
Nina Wollny
Regie: Falk Richter, Anouk van Dijk
Bühne: Katrin Hoffmann
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Ben Frost
Choreografie: Anouk van Dijk, Falk Richter
Licht: Carsten Sander
Dramaturgie: Jens Hillje
14. April 2013, 19.30 Uhr