
Alle warten nun auf die Ankunft eines Erlösers. Den stärksten Eindruck hinterlässt dabei der packend gestaltete zweite Akt, wo die Auseinandersetzung zwischen Parsifal und Kundry im Mittelpunkt steht. Der einst mächtige Zauberer Klingsor erscheint nur noch als impotenter Popanz in Unterhosen, der von Kundry verspottet wird. Die lemurenhaften Blumenmädchen erinnern gar an Zombies. Dass gerade dieser zweite Akt das Zentrum des Werkes bildet, wird bei der Aufführung einmal mehr deutlich. Die tiefgreifende Wandlung des Helden ereignet sich tatsächlich hier. Da er Kundry als Frau zurückweist, entfacht Parsifal die Katastrophe. Doch das Dämonische und Abgründige beim Untergang von Klingsors Zauberschloss könnte auch noch greller und drastischer zutage treten. Das hat sich beim aktuellen Bayreuther "Parsifal" überzeugender gezeigt. Klingsor spielt zwar mit dem Feuer, das man auch auf der Bühne sieht, doch diese erhitzte Glut greift vor allem Kundry in der auch darstellerisch elektrisierenden Gestaltung von Rosie Aldridge auf.
Im dritten Akt fesseln trotz szenischer Schwächen vor allem der überirdisch und wie eine Entrückung gestaltete Karfreitagszauber mit seinem sphärenhaften Silberregen und den geöffneten Theatertüren, wo Kinder und Jugendliche mit Kerzen als Engel erscheinen. Parsifal erscheint zuletzt in einer himmelblauen Rüstung. Auch wenn dies stellenweise sentimental erscheint, verfehlt es die unmittelbare Wirkung nicht. Amfortas Vater Titurel wird schließlich brutal von der aufgebrachten Menge erschlagen. Der gepeinigte König Amfortas wird schließlich durch Parsifals Speer erlöst, der die Wunde schlug. Die von Richard Wagner beabsichtigte Hmmelfahrt ist zumindest selbst hier nicht ausgeschlossen, wobei es sich um eine reichlich entzauberte Version handelt, der man zuweilen doch noch mehr Abendmahlmysterium wünscht, obwohl mit Weihrauch nicht gespart wird. Die Liebe zu einzelnen Gegenständen treibt da manchmal seltsame Blüten - bis hin zu Spielzeugautos und anderem Nippes, der ins Klamaukhafte abdriftet. Szenisch nicht der glücklichste Einfall ist auch der Moment, als Kundry eine Schwangere berührt und zuletzt selbst als scheinbar Schwangere die Szene beherrscht.
Musikalisch kann diese insgesamt interessante Aufführung in vielerlei Hinsicht punkten. Cornelius Meister arbeitet die großen Spannungsbögen mit dem Staatsorchester Stuttgart treffsicher heraus. Die Wucht des Vorspiels mit der berührend wandernden Gralsmelodie in As-, Ces-Dur und d-Moll könnte manchmal zwar noch heller aufleuchten, doch die dynamische Steigerung ergibt sich dann an diesem Abend wie von selbst. Das Schreitmotiv mit dem Gesang der Männer und der langgezogenen Kantilene besitzt mit dem glänzend disponierten Staatsopernchor erhaben-gravitätische Größe, die Wandlungslehre wird auch durch schnelle Modulationswechsel in es-Moll, Fes-Dur und Es-Dur markant verdeutlicht. Den unheimlich zuckenden Rhythmen des Klingsor-Motivs wird Meister mit dem Staatsorchester Stuttgart in jeder Beziehung gerecht. Da sprühen wirklich glühende Funken im Orchester auf!
Während der wunderbar sonore Gurnemanz von Kwangchul Youn im ersten Aufzug die Szene beherrscht, begeistern Samuel Sakker als glutvoller Heldentenor Parsifal und Rosie Aldridge als hexenhafte Kundry im zweiten Akt als sich feurig bekämpfendes Paar, das aber auch zu sehr innigen Berührungsmomenten fähig ist. Vor allem bei den leisen Passagen besitzt Rosie Aldriges Kundry eine betörende Schlankheit und klangfarbliche Wandlungsfähigkeit, die man so selten hört. Shigeo Ishino als Klingsor könnte zuweilen noch mehr mit des Basses Grundgewalt agieren, doch die elementaren Ausbrüche gelingen ihm fesselnd. Rosie Aldridge glückt es, die tragische Größe von Kundrys Passion ergreifend zu verdeutlichen. Bei der berühmten Passage "Ich sah - Ihn - Ihn und lachte..." stürzt die Stimme über zwei Oktaven vom hohen H bis hinunter zum Cis nicht ins Bodenlose hinab, sondern wird von einem voluminösen Mantel aufgefangen. Und auch das Zusammenspiel mit dem Orchester bei der Dissonanz E, Cis, G, H gelingt fabelhaft.
Ganz hervorragend wird dann der dritte Akt musikalisch gestaltet, wo Cornelius Meister das Staatsorchester Stuttgart nochmals zu einer erstaunlichen spieltechnischen Präzision und Größe anspornt. Auch Pawel Konek als Amfortas gewinnt als leidender Amfortas vor allem hier erschütterndes Format. Grandios gestaltet Cornelius Meister mit dem Staatsorchester Stuttgart und dem Staatsopernchor am Schluss die Dekorationswandlung mit den unheimlichen Gralsglocken, die die Wucht von "Siegfrieds Trauermarsch" hier noch übertrifft. Der Reichtum der Motive blüht auf. Die Totenklage wird in der Bassstimme im gleichen Rhythmus ununterbrochen und ausdrucksvoll weitergeführt. Die Intervallschritte des Motivs der Öde ertönen klagend. Und mit dem Wiedereintritt des Glockengeläutes tritt das Gefühl der Trauer um so erschütternder und unmittelbarer zutage.
Zurecht gab es zuletzt großen Jubel des Publikums für diese famose Orchesterleistung. In weiteren Rollen gefallen Peter Lobert als fulminanter Titurel, Heinz Göhrig als 1. Gralsritter, Aleksander Myrling als 2. Gralsritter, Alma Ruoqi Sun (1. Knappe), Catriona Smith (2. Knappe), Torsten Hofmann (3. Knappe), Sam Harris (4. Knappe), Claudia Muschio, Natasha Te Rupe Wilson, Carmen Larios Caparros, Alma Ruoqi Sun, Lucia Tumminelli, Itzeli del Rosario als veritable Blumenmädchen sowie Itzeli del Rosario als Stimme aus der Höhe sowie Ralf Borchers als Titurel-Double im dritten Aufzug. Der Extrachor und Kinderchor der Staatsoper Stuttgart wurde in den frenetischen Schlussapplaus eingeschlossen. Für die Inszenierung gab es zuletzt neben Zustimmung vereinzelten Widerspruch. Die Erlösung durch die göttliche Liebe ist auch hier nicht unmöglich, wenngleich der Chor Schilder mit der Aufschrift "Wo ist Gott?" trägt. Nietzsche lässt grüßen.