"Carmen" geht an die Substanz und an die Nieren, wenn hinter der Folie sinnlicher Melodien und schillernder Orchesterfarben die Grundbegriffe des Zusammenlebens aus den Angeln gehoben werden. Sie entführt in fremde Welten, gestattet voyeuristische Blicke in zutiefst verwerfliche Lebensmaximen und hält schließlich, indem sie den Zuschauer in eine Stierkampfarena versetzt, auch noch sich selbst den Spiegel vor.
Fernab eines klischeehaften Spanienbildes zwischen Stierkampfarena, Zigeuner- und Schmugglerromantik begibt sich Rainer Holzapfel in seiner Inszenierung auf die Suche nach dem inhaltlichen und emotionalen Kern der Handlung. Übertragen in eine lebensnahe, heutige Atmosphäre (Bühne: Detlef Thomas / Kostüme: Lisa Brzonkalla) konzentriert er sie auf die Dreiecksgeschichte, auf den Mann (Don José) zwischen zwei Frauen (Micaëla und Carmen), die für komplett verschiedene Lebensentwürfe stehen. Carmens Credo ist die Freiheit, aber auch die Unberechenbarkeit der Liebe, das Leben für den Augenblick. José, ihr verfallen und mit seiner Sehnsucht endlich mitten ins Leben geworfen, verschreibt sich Carmen und der Liebe mit Haut und Haaren. Micaëla steht zwischen beiden, auch sie eine starke, eine attraktive Frau. Doch sie repräsentiert die gesellschaftlich anerkannten Werte der Vernunft, der Ordnung und der Familie und damit für José ein Gefangensein in einer Bürgerlichkeit, deren engen Horizont ihm Carmen längst geöffnet hat. José geht an seiner inneren Zerrissenheit und letztlich an der Grausamkeit der Liebe zugrunde, verzweifelt und doch erleichtert, weil nur der Tod von der Liebe erlöst.
In der Titelpartie ist die Mezzosopranistin Nadine Weissmann zu erleben. Don José und Micaëla werden gesungen von Jean-Noël Briend und Marietta Zumbült. Alexander Günther gibt den Escamillo. In weiteren Partien darf man sich am Premierenabend auf Heike Porstein (Frasquita), Christiane Bassek (Mercédès), Frieder Aurich (Remendado), Günter Moderegger (Dancaïro) und Dong-Won Seo (Zuniga) freuen. In den weiteren Vorstellungen werden dann mit dieser Besetzung alternierend auch Hidekazu Tsumaya als Zuniga sowie Hellen Cho, Janine Metzner und Artjom Korotkov aus dem Opernstudio der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar als Frasquita, Mercédès und Remendado zu erleben sein. Es singen die Damen und Herren des Opernchores des Deutschen Nationaltheaters Weimar sowie der Chor "Die Ameisenkinder" des Goethegymnasiums Weimar. Es spielt die Staatskapelle Weimar. Die musikalische Leitung der Produktion liegt in den Händen von Martin Hoff.
Rainer Holzapfel studierte Musiktheater-Regie bei Götz Friedrich an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg. Als Regieassistent arbeitete er in Luzern, London, Darmstadt und Bremen u.a. mit Peter Palitzsch, David Pountney, Werner Schroeter und Hans Kresnik. Lehraufträge führten ihn an die Essener Folkwanghochschule sowie an die Hochschule der Künste in Bremen.
Zu seinen Inszenierungen zählen "Jakob Lenz" (Young Opera Company Freiburg), "Fräulein Julie" und "Der mündliche Verrat" (beides am Bremer Theater). Regelmäßig arbeitet er am Theater Biel/Solothurn: "Jakob von Gunten" (nach Robert Walser), "Antigone" (nach Sophokles), "Zaide" (Mozart) und "Die Schule der Frauen" (Liebermann nach Moliére). Am Europäischen Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau brachte er die Uraufführung von vier Kurzopern heraus, und in Berlin erarbeitete er an der Neuköllner Oper eigene Versionen von Bizets "Perlenfischern" und Händels "Orlando". In der kommenden Spielzeit wird er dort Puccinis "Bohème" auf die Bühne bringen. Im Schauspiel zeigte Rainer Holzapfel am HAU "Four Walls Don't Stop", eine schauspielmusikalische Fusion der Stücke "Nicht zu Stoppen" von Martin Pfaff und "Four Walls" von John Cage, und in den Sophiensälen Berlin "Wie Europa gelingt" von Katja Hensel.
Georges Bizets "Carmen" ist seine erste Regiearbeit am DNT Weimar.
Weitere Vorstellungen: 31.1., 19.30 Uhr; 14.2., 20 Uhr; 1.3., 19.30 Uhr; 9.3., 18 Uhr; 26.3, 19.30 Uhr