Die Besonderheit von Zelimskys Oper, die 1933 aufgrund der politischen Situation nicht wie ursprünglich geplant in Deutschland, sondern in Zürich uraufgeführt wurde, liegt darin, dass sie viele schauspielerische Elemente, sprich gesprochenen Text, enthält. So stellt sich z.B. jeder der Figuren bei ihrem ersten Auftritt namentlich vor.
Es ist die Lebens- und Leidensgeschichte Haitangs, aber auch eine Märchenparabel über Gerechtigkeit und eine Gesellschaftskritik. Während alle andern nur lügen, ist Haitangs Lebenshaltung von Würde, Aufrichtigkeit, Barmherzigkeit und positivem Menschenbild bestimmt, trotz Erniedrigung, Demütigung, Versklavung, Vergewaltigung.
Haitangs Familie ist ruiniert. Die Forderungen des Steuerpächters Ma haben den Vater in den Suizid getrieben. Der Sohn kann die Familie nicht unterstützen und ist empört als die Mutter Haitang an Herrn Tong in ein Freudenhaus verkauft. Der Prinz Pao verliebt sich in sie, aber es ist ausgerechnet Ma, der sie auslöst - und zur Zweitfrau nimmt. Als sie einen Sohn zur Welt bringt, fürchtet die kinderlose Erstfrau Yüpei um ihre Stellung, bringt den Gatten Ma um, schiebt den Mord der wehrlosen Haitang in die Schuhe und gibt sich, um ihre Erbansprüche zu sichern, als die Mutter des Kindes aus.
Die Gerichtsverhandlung ist eine Farce: der Richter und die Zeugen sind bestochen. Kaum ist das Todesurteil verkündet, will der gerade installierte neue Kaiser alle Todesurteile überprüfen. Haitang wird nach Peking gebracht. Der neue Kaiser entpuppt sich als Prinz Pao. Um zu prüfen, wer die echte Mutter ist wird ein Kreidekreis gezogen, das Kind soll an den Armen aus dem Kreis gezogen werden, Während Yüpei an dem Kind zerrt, zieht Haitang ganz sacht und lässt schließlich los, um dem Kind nicht zu schaden. Die unbedingte Liebe steht gegen Eigennutz. Der raffinierte Schwur vor Gericht wird Yüpei zum Verhängnis, sie tappt in die eigene Falle. Das Kind entpuppt sich als Paos Sohn, den er in der ersten Nacht im Hause Ma zeugte als er sich der Schlafenden näherte. Haitang verzeiht Pao unter der Bedingung, dass er seinen Sohn als legitim anerkennt, sie wird zur Kaiserin. Das ist eine packende Geschichte, musikalisch großartig umgesetzt. Es ist sehr verdienstvoll, dass man sich jetzt wieder der kaum gespielten, fast vergessenen Werke besinnt, auch wenn sie (vielleicht zunächst?) nicht für volle Ränge sorgen. Die wunderbare Inszenierung von David Bösch jedenfalls ist ein Gesamtkunstwerk.
Das Bühnenbild von Patrick Bannwart kann man als poetischen Realismus bezeichnen, bezugnehmend auf die Ästhetik der 1920/30er Jahre. Es enthält dezente fernöstliche Zitate ohne Chinoiserien und ist nicht verortet. Ähnlich wie in der Musik Zemlinskys verfolgt es ein paar Leitmotive. Da sind zum einen die Käfige, in die in der ersten Szene die Freudenmädchen gesperrt werden, märchenhaft verwandelt als Vogelkäfige. Diese finden sich im zweiten Akt im Bettgemach Mas und Haitangs als großer Käfig gespiegelt wieder. Das Kind, um das es im Kern geht, geistert immer wieder als stumme Figur mit großem Pappmaschee-Kopf über die Bühne. Ein weiteres Motiv, der Kreidekreis, taucht nicht nur dreimal in den Szenen auf, sondern findet sich als Kreidezeichnung mit einem liebevoll gekritzelten Strichkind auf dem Bühnenvorhang. Das erinnert ein wenig an die Spruchbänder des epischen Theaters, und erinnert damit auch an Zemlinskys Tätigkeiten für Brecht und Weill. Berührend auch die Szene als die verurteilte Haitang im Schneefall in einer hölzernen Halskrause nach Peking zur erneuten Verhandlung gebracht wird. Auch die Kostüme von Falko Herold zitieren nur bei Haitang und ihrer Mutter chinesische Gewänder, alle anderen sind heutig gekleidet, bis auf Tong, der in seiner extravaganten Kleidung einem Filmmagier gleicht.
Die Musik ist spätromantisch mit Jazzrhythmen, kammermusikalischen Elementen und Einschüben sowie Anklängen an chinesische Tonalität und auch an Kurt Weill. Was sich als gewagte Mischung anhört, ist aber de facto sehr homogen. Der fernöstliche Spielort wird musikalisch zitiert. Zemlinsky wählte eine ungewöhnliche Orchestrierung u.a. mit Saxophon, Banjo, Gitarre, Mandoline. Die Texte werden frei gesprochen, mitunter rhythmisiert. Alle Charaktere haben ein eigenes Motiv, selbst der Kreidekreis hat eines, nur Haitang hat kein Leitmotiv, sie ist ganz frei. Das Motiv des Kreidekreises durchzieht das Stück musikalisch und szenisch, es taucht dreimal auf: als Kreis des Rades, Kreis der Trennung von Leben und Tod und Kreis der Gerechtigkeit.
Aufgrund einer stimmlichen Indisposition konnte Lavinia Dames die Tschang-Haitang nur szenisch darstellen, Pauliina Linnosaari aus dem Karlsruher Ensemble sprang für den Gesang ein und meisterte die Aufgabe bravourös. Das hätte fast als Inszenierungsidee durchgehen können! Mit anmutiger Sensibilität spielte Lavinia Dames. Insgesamt lieferte das Ensemble eine mehr als überzeugende Leistung und die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Hendrik Vestmann spielten klar und eindrucksvoll.
Alexander Zemlinskys Oper ist ein Kleinod, das ruhig häufiger seinen Weg auf den Spielplan finden könnte. In David Böschs grandioser Inszenierung war das ein Genuss. Ein tolles Stück, dem man ganz, ganz viele Zuschauer wünscht. Die Anwesenden belohnten denn auch zu Recht das Ensemble mit enthusiastischem Beifall.
Musikalische Leitung: Hendrik Vestmann
Inszenierung: David Bösch
Bühne und Video: Patrick Bannwart
Kostüme: Falko Herold
Licht: Volker Weinhart
Dramaturgie: Anna Melcher
Tschang-Haitang: Lavinia Dames (szenisch)
Pauliina Linnosaari (Gesang)
Frau Tschang, ihre Mutter: Katarzyna Kuncio
Tschang-Ling, ihr Bruder: Richard Šveda
Tong, ein Kuppler: Cornel Frey
Pao, ein Prinz: Matthias Koziorowski
Ma, ein Manderin: Joachim Goltz
Yü-Pei, seine Gattin ersten Ranges: Sarah Ferede
Tschao, Sekretär bei Gericht: Jorge Espino
Tschu-Tschu, Oberrichter: Werner Wölbern
Hebamme: Romana Noack
Ein Mädchen: Elisabeth Freyhoff
1. Kuli: Sander de Jong
2. Kuli: Henry Ross
Soldat: Dashuai Jiao
Düsseldorfer Symphoniker