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Ein humanistisches Theaterstück

„Als mein Vater ein Busch wurde… und ich meinen Namen verlor“ von Joke van Leeuwen und Hanni Ehlers. Theater Münster, Kleines Haus

Copyright: Oliver Berg

Übrig bleibt vom Namen des Mädchens nur das Ende: Toda. Daran ist die Flucht schuld; die Fremde, durch die Toda hindurch muss, in die sie hinein muss, um zu ihrer Mutter auf der anderen Seite der Grenze zu gelangen, im Ausland. Eigentlich lebt Toda zusammen mit ihrem wunderbar optimistischen Vater, dem Feinbäcker. Aber als es Krieg gibt – die „Einen“ gegen die „Anderen“ – muss der Vater zum Soldaten werden, und als Soldat muss er sich tarnen; als Busch, um nicht erkannt zu werden. So macht er sich unsichtbar. Toda wird Schleppern anvertraut, ihr Weg endet kurz vor der Grenze, denn dort wird sie abgesetzt und sich selbst überlassen. Skurrile Begegnungen, zufällige Allianzen und ungeplante Verstecke prägen ihren weiteren Weg.

Je länger dieser Weg, desto fremder wird ihr Name, bis sie ihn schließlich verliert, zusammen mit allem, was sie zwangsläufig hinter sich lässt: ihrem Zuhause, ihrer Orientierung, ihrem Lebensweg. Die Flucht wird fortan ihr Leben prägen, „das geht nie mehr ab“, sagen die anderen Geflüchteten. Diese Flucht ist jedoch nicht allein als harter, menschengemachter Schicksalsschlag erzählt, sondern mit den Augen des Kindes gesehen, das die Zuversicht seines fröhlichen Vaters völlig verinnerlicht hat. So erlebt Toda große Abenteuer, für die der Regisseur Tuğsal Moğul einmal mehr poetische Szenen und sinnliche Bilder gefunden hat.

Dieses sensible Kinder- und Jugendtheaterstück basiert auf Joke van Leuweens gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2012. Moğul hat es für das Kleine Haus am Theater Münster inszeniert – mit dem ihm eigenen Charme aus einfachen dramaturgischen Mitteln, so knapp gesetzter wie treffend ausgewählter Musik und ans Herz gehenden Dialogen, Gesten und Blicken. Die Konjugation des Verbs „sich integrieren“ ist dabei nur ein Wink mogulscher Art.

Dies ist ein humanistisches Theaterstück für ein Publikum ab 10 Jahren. Der Einlass durch Grenzwärter mit Trillerpfeifen und Kommandos in fremder Sprache leitet den Abend mit wilder Irritation ein – und erschließt sich als wirksame Übung dafür, eine leise Ahnung von Flucht und Massenmigration zu entwickeln. Das Stück durchzieht das Thema in seiner großen Komplexität analog zu Todas Weg. Einzelne Szenen sind akzentuiert, zum Beispiel die ganze Brutalität eingeforderter Dankbarkeit für nicht eingeforderte Hilfe: Sie karikiert das Verhältnis von Geben-Wollen gegenüber Nehmen-Müssen als pures Machtinstrument.

Die schließliche Verwandlung der Schauspieler in Realpersonen mit jeweils einer eigenen, kleinen Toda-Geschichte holt das Theater schließlich in das Leben des Publikums hinein.

Premiere: 04.11.2016

Nächste Vorstellungen:

13.11.2016

17.11.2016

13.12.2016

21.12.2016

Inszenierung: Tuğsal Moğul

Bühne, Kostüme: Bernhard Niechotz

Musik: Jonas Nondorf

Mit:

Linn Sanders

Jasaman Roushanaei

Benedikt Thönes

Jonas Nondorf

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Lesezeit für diesen Artikel: 14 Minuten



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