Übrig blieb eine von zahlreichen Klöstern, altem Gemäuer, stehenden Gewässern und schwindender Bevölkerung geprägte Stadt, eine „tote Stadt“, die Paul wegen seiner Trauer als adäquater Wohnort erscheint. Als ihn nach Jahren sein alter Freund Frank besucht – hiermit beginnt die Oper –, überrascht ihn Paul mit der Nachricht, er habe eine Frau kennen gelernt, deren Ähnlichkeit mit Marie so verblüffend sei, dass er fast an eine Wiederauferstehung glaube. Schon wenig später erscheint Marietta – so heißt sie – und verdreht Paul gehörig den Kopf, spielt sogar mit den „Reliquien“ der Verstorbenen und reizt ihn in einer nächtlichen Sequenz einerseits mit ihrem erotischen Feuer, andererseits mit ihrer Widerspenstigkeit bis aufs Blut, sodass er sie schließlich im Affekt erwürgt. An dieser Stelle endet der Traum, Paul hat eine Ahnung davon bekommen, wie er sein Leben ändern könnte. Wird er das schaffen?
Erich Wolfgang Korngold, 1897 in Brünn geboren, wuchs im Wien der letzten Jahre des Kaiserreiches auf. Seine große musikalische Begabung ließ ihn als Klavier spielendes und komponierendes „Wunderkind“ in die Fußstapfen Mozarts treten; begünstigt wurde sein Werdegang zweifellos durch seinen Vater Julius Korngold, der zu jener Zeit als einflussreichster und gefürchtetster Musikkritiker in der Metropole Wien galt und über alle wichtigen Kontakte zu Dirigenten, Sängern und Theaterleuten verfügte. Nach dem Überraschungserfolg, den der erst 17-jährige Erich Wolfgang mit dem Einakter-Doppelabend „Der Ring des Polykrates / Violanta“ (UA 1916, Hofoper München) landen konnte, gelang ihm mit „Die tote Stadt“ eine Oper, die derartig am Nerv der Zeit zu rühren schien, dass gleich zwei Opernhäuser sich um die Uraufführung rissen: Die tote Stadt wurde am selben Dezemberabend des Jahres 1920 in Köln und Hamburg uraufgeführt.
Als Sohn jüdischer Eltern hatte Erich Wolfgang Korngold das Glück, einer Entscheidung über Verbleib oder Veränderung seines Lebensmittelpunktes noch vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich enthoben zu werden: Bereits 1934 holte ihn Max Reinhardt in die USA, um die Musik zur Verfilmung seines legendären „Sommernachtstraumes“ nach Mendelssohn einzurichten. Dieses Projekt bescherte Korngold eine zweite Karriere als Hollywood-Filmkomponist und ermöglichte ihm, seine Familie 1938 nachkommen zu lassen, die damit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entging.
An den Riesenerfolg seiner „Toten Stadt“ konnte Korngold zwar mit seinen weiteren Opern „Das Wunder der Heliane“ und „Die Kathrin“ nicht mehr anschließen, er wurde aber einer der ersten großen Hollywood-Filmkomponisten, der die Soundtracks der folgenden Jahrzehnte ganz entscheidend mitprägte. Seine brillante Orchestrierung, die Fähigkeit, alle Register eines großen romantischen Sinfonieorchesters ziehen zu können und so in jungen Jahren mit Richard Strauss und Giacomo Puccini verglichen zu werden, verlieh Filmen wie „Unter Piratenflagge“ (1935), „Der Prinz und der Bettelknabe“ (1937), „Robin Hood, König der Vagabunden“ (1938), „Der Herr der sieben Meere“ (1940) und „Der Seewolf“ (1941) ihre eigene dramatische Wucht. Dem äußeren Anschein zum Trotz litt Korngold unter der Entwurzelung, die der Abschied von Wien für ihn bedeutet hatte, und unter dem turbulenten Wechsel der Zeiten, der die Musik seiner Jugend im kollektiven Bewusstsein rasch in Vergessenheit geraten ließ. Er starb bereits 1957 an einer Herzattacke.
Das Libretto zu „Die tote Stadt“ schrieb Korngold zusammen mit seinem Vater unter dem Pseudonym ‘Paul Schott‘. Die Handlung basiert auf dem symbolistischen Roman „Bruges-la-morte“ („Das tote Brügge“) von Georges Rodenbach (1855–1898) bzw. auf dessen daraus entwickeltem Schauspiel „Le mirage“, das Siegfried Trebitsch unter dem Titel „Das Trugbild“ übersetzt und Korngold anempfohlen hatte. Was dort einen größeren Handlungszeitraum umspannt, fassten die Korngolds zu einer knapp 24 Stunden dauernden Geschichte zusammen, deren größter Teil sich am Schluss als Traum des Protagonisten Paul entpuppt, der in der Opernwirklichkeit nur wenige Minuten gedauert zu haben scheint. Sigmund Freuds Beschäftigung mit der Traumanalyse lag gewissermaßen in der Luft und fand in diesem Libretto eine kongeniale Umsetzung für die Bühne.
Korngolds Musik zur „Toten Stadt“ weist trotz seiner Jugend eine verblüffende Reife und einen ganz unverkennbaren Personalstil auf: Ganz entgegen der düsteren Atmosphäre, die sich mit dem Titel verbindet, sprüht sie vor Leben: Sie schwelgt in spätromantischen Klängen, springt von einem Höhepunkt zum anderen, glänzt und glitzert durch eine effektreiche Instrumentierung, profitiert mehr vom Melodienreichtum als von den Errungenschaften der musikalischen Moderne, die zu jener Zeit längst begonnen hatte. Zwei der größten „Hits“ der Oper, die im Rundfunk schon damals ganz selbständig Karriere machten, sind das Lied Mariettas, „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“, gesungen vom Pierrot im 2. Akt.
„Die tote Stadt“ in Chemnitz
Das Chemnitzer Opernhaus, damals noch „Neues Stadt-Theater“ genannt, spielte „Die tote Stadt“ bereits ein Jahr nach der Uraufführung nach. Die Premiere war am 7. Dezember 1921, Korngold reiste persönlich an und besuchte drei Tage später die nächste Premiere seiner Oper in Dresden, wo ihn „ein bislang unbekannter junger Sänger namens Richard Tauber […] mit seiner kaum glaubwürdigen Musikalität völlig aus dem Gleichgewicht gebracht [habe]“, wie seine Frau später berichtete. Tauber, Stiefsohn des gleichnamigen Chemnitzer Intendanten, sang wenige Wochen später den Paul in der Chemnitzer Produktion. Diese Partie wurde für ihn zu einer seiner wichtigsten Opernrollen, für Korngold stellte er die Idealbesetzung dar. In Chemnitz hat es seither keine Neuproduktion der „Toten Stadt“ mehr gegeben – bis heute.
Libretto von Julius und Erich Wolfgang Korngold nach Georges Rodenbachs Roman
„Bruges la morte“
Musikalische Leitung: Frank Beermann
Inszenierung: Helen Malkowsky
Bühne: Harald B. Thor
Kostüme: Tanja Hofmann
Chor: Simon Zimmermann
Mit: Markus Petsch (Paul), Marion Ammann (Marietta), Klaus Kuttler (Frank / Fritz), Tiina Penttinen (Brigitta), Guibee Yang (Juliette), Carolin Schumann (Lucienne), André Riemer (Victorin), Edward Riemer (Graf Albert)