Was haben die Atriden mit uns zu tun? Jenes sagenhafte Geschlecht, das von Generation zu Generation einen „Fluch“ weitergibt, der scheinbar ausweglos in Mord und Totschlag endet? Homers Ilias und die Stücke der antiken Tragiker sind bis heute klassischer Bildungsstoff, aber vielen Menschen kommen sie sehr fern, verstaubt und wenig nachvollziehbar vor.
Aus vier eigenständigen Stücken von Euripides und Sophokles, in denen die Geschichte Agamemnons und seiner Kinder sozusagen in Einzelkapiteln vorliegt, entwickelten Regisseurin Konstanze Lauterbach und Dramaturgin Dagmar Borrmann eine Fassung, die das Geschehen in einem stringenten Bogen erzählt. So entsteht eine emotional packende und in ihrem Assoziationsraum sehr gegenwärtige Tragödie.
Im Mittelpunkt steht das Schicksal Iphigenies. Von ihrem Vater, dem Feldherrn Agamemnon, wird sie den Göttern geopfert, um den Griechen günstigen Wind für die Fahrt gegen Troja zu verschaffen. Ihre Mutter Klytaimnestra schwört Rache für den Kindesmord. Als die Griechen siegreich heimkehren, erschlägt sie Agamemnon. Orest erhält vom Gott Apoll den Auftrag, diesen Mord zu rächen. Angespornt vom Hass Elektras, tötet er die Mutter. Um den Muttermord zu büßen, schickt ihn Apoll (der die Tat einst selbst befahl) nach Tauris, das Bild der Göttin Artemis nach Griechenland zu stehlen. Ein Himmelfahrtskommando, da jeder Grieche, der taurischen Boden betritt, ermordet wird. Gibt es einen Ausweg aus diesem Kreislauf von Mord und Rache, von Schuld und wieder Schuld? Die Handlung ist auf die Hauptfiguren fokussiert, deren Entwicklung dadurch plausibel und nachvollziehbar wird.
Nebenmotive und rein rhapsodische Passagen fallen weg. So wird auch deutlich, dass der „Fluch der Atriden“, der die Geschicke der Familie Agamemnons bestimmt, kein mystisches Verhängnis ist, sondern eine Verflechtung ganz handfester Interessen, Machtgelüste und Emotionen. Durch die komplexe Erzählweise gibt es keine Unterscheidung der Figuren in „Gute“ und „Böse“. Die heute Opfer sind, werden morgen zu Tätern. Die Dynamik von Schuld und Rache wird dadurch transparent – und scheinbar umso unausweichlicher. Denn jede Figur ist mit ihren Argumenten und Motiven absolut verständlich und nachvollziehbar. Der scheinbar so ferne Mythos rückt plötzlich sehr nahe, und die Konflikte der Figuren erscheinen als nicht erledigte Historie; aus ihnen entstehen bis heute die Brandherde dieser Welt.
Erstmals wird auf dem Theater die Geschichte der Kinder Agamemnons im Zusammenhang erzählt. Trotzdem erwartet die Zuschauer kein mehrstündiger „Antike-Marathon“, sondern ein Theaterabend voller Emotionen und fesselnder Bilder von knapp drei Stunden (einschließlich einer Pause). Regisseurin Konstanze Lauterbach, die für ihre sehr plastische und sinnliche Theaterästhetik bekannt ist und in Wiesbaden sowohl Schauspiel als auch Oper inszeniert, erarbeitete mit der Bühnenbildnerin Karen Simon ein Raumkonzept, das durch eindrucksvolle Draht-Installationen besticht. Das Motiv der Verstrickung und Unausweichlichkeit wird auf vielfältige Weise variiert.
Achim Gieseler entwickelte für die Aufführung eine Komposition, in der das seltene Metallinstrument Hang dominiert, dessen fremdartiger Klang einen spannenden Kontrast zum Geschehen um Blut und Schuld und Rache bildet.
Inszenierung Konstanze Lauterbach
Bühne Karen Simon
Kostüme Hannah Hamburger
Musik Achim Gieseler
Dramaturgie Dagmar Borrmann
Mit: Doreen Nixdorf (Iphigenie), Susanne Bard (Klytaimnestra), Michael Günther Bard (Agamemnon, Thoas), Sybille Weiser (Elektra), Michael von Bennigsen (Orest), Michael von Burg (Pylades), Lars Wellings (Menelaos), Jörg Zirnstein (Diener, Bote, Phryger, Apoll, Arkas), Magdalena Höfner (Hermione), Evelyn M. Faber, Magdalena Höfner, Franziska Werner (Chor)
Weitere Vorstellungen
12.10., 16.10. und 27.10., jeweils 19.30 Uhr, Kleines Haus