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ATEMLOS UND SPANNEND - "Dora" von Bernhard Lang in der Staatsoper Stuttgart

am 8. März 2024

Wer ist Dora? Diese Frage steht hier zentral im Raum. Sie ist Mitte 20, steht am Anfang ihres Erwachsenenlebens - und sie hat das Leben in ihrer Familie satt. Mit dieser "Dora" haben Frank Witzel (Libretto) und Bernhard Lang (Musik) eine Opernheldin des 21. Jahrhunderts erfunden, die in ihrer Total-Ablehnung alle herausfordert.

 

Copyright: Martin Sigmund

Die atemlose und spannende Inszenierung von Elisabeth Stöppler führt das Publikum nicht nur in einen imaginären Dora-Raum, sondern zu einem abgehängten und trostlosen industriellen Landstrich. Die Inszenierung arbeitet aber auch mit starker physischer Präsenz (Bühne und Kostüme: Valentin Köhler). Insbesondere die Video-Sequenzen von Vincent Stefan brennen sich ins Gedächtnis ein. Da sieht man in überdimensionaler Größe die Eltern, die die auf dem Boden liegende Dora enorm unter Druck setzen. Es gibt hier viele Anspielungen auf literarische Figuren, Märchen, Mythen und religiöse Legenden. Im Siedlungshaus sind verzerrte Gesichter zu sehen, die einen gespenstischen Anblick hinterlassen. Man erkennt eine Madonnen-Statue, sieht Augen, Hände, sogar den Eiffelturm  und ein brennendes Bett.

Dora vernimmt auch immer wieder die Stimmen eines antiken Chors. Man wähnt sich in einer Geisterstadt. Den wiederholten Vorwürfen ihrer arbeitslosen Eltern, mit Mitte zwanzig noch immer ohne Arbeit und Lebensplan unter ihrem Dach zu wohnen, hält Dora deren gescheitertes Leben entgegen. Ende des ersten Aktes bricht sie allein in die Nacht auf. Im zweiten Akt kommt es dann zur entscheidenden Begegnung mit dem Teufel, der zunächst in Gestalt eines Beamten erscheint. Und im dritten Akt drängt sich der wandlungsfähige Teufel dem arglosen Sekretär Berthold mit dubiosen Investitionsvorschlägen für einen Teich auf. Der Teufel verwirrt den in Dora verliebten Berthold mit schlüpfrigen Anspielungen auf deren nächtliches Treiben. Im vierten Akt erfährt Dora dann, dass Berthold versucht hat, sich im Teich aus unerwiderter Liebe zu ihr zu ertränken. Er wird gerettet, erleidet jedoch schwerwiegende Schäden und  bleibt gelähmt. Dies alles spielt sich in der vielschichtigen Inszenierung auf doppelter Ebene ab. Im fünften Akt erscheint der Teufel wieder - diesmal als Mephistopheles, der an Goethes  "Faust" sowie dessen legendären Darsteller Gustaf Gründgens erinnert. Da regnet es sogar Konfetti.  Er versucht, Dora zu einer bösen Tat anzustiften. Als sie ablehnt, gibt er endgültig auf.

Auch der Chor kann hier nicht mehr helfen. Berthold, der seit seinem Selbstmordversuch die Sprache verloren hat, beginnt stotternd Gedanken zu sammeln. Dora geht auf ihn zu, doch die Story hat damit kein eigentliches "Happy End", sondern hinterlässt viele ungelöste Fragen. Das macht aber auch den besonderen Reiz dieses ungewöhnlichen Werkes aus, das gleichsam mit verschiedenen Zeitebenen spielt. Angstvisionen verdichten sich hier zu Alpträumen, die szenisch packend gelöst werden. Bei dieser suggestiven Seelenreise erfährt man dann auch nie genau, wo sich der Teufel eigentlich befindet. Die "Walpurgisnacht"-Szene aus Goethes "Faust" bleibt immer greifbar.

Musikalisch ist das Werk vor allem in rhythmischer Hinsicht überzeugend. Da wird das Schlagzeugensemble auf der Empore massiv eingesetzt, es kommt zu einer elektrisierenden harmonischen Verdichtung. Unter der impulsiven Leitung von Elena Schwarz musiziert das Staatsorchester Stuttgart wie aus einem Guss - feinnervig und  einfühlsam zugleich. Motive aus Verdis "Otello" klingen bei der Szene im Landratsamt mit Berthold an. Es ertönen raffiniert verfremdet die dissonanten Akkorde aus "Elektra" von Richard Strauss, die Schluss-Szene aus Richard Wagners "Götterdämmerung", Reminiszenzen an Richard Wagners "Siegfried", Anklänge an Charles Gounod und sogar Pink Floyd. Dieses fesselnde musikalische Spiegelkabinett wird im dritten Akt wirkungsvoll ergänzt durch ein inniges Liebeslied aus dem Liederzyklus "Die schöne Müllerin" sowie vom Lied "Die liebe Farbe" von Franz Schubert. Man kann sich über so eine Klangcollage sicherlich streiten, dramaturgisch verfehlt sie ihre Wirkung hier aber nicht. Das liegt vor allem an der kompositionstechnischen Perfektion von Bernhard Lang, der diese Motive und Themen äusserst geschickt in seinen explosiv-atemlosen Klangapparat einbaut.

Auch die Behandlung der Sänger-Partien gelingt sehr souverän. Die wandlungsfähige Sopranistin Josefin Feiler  kann bei ihren weiten Intervallsprüngen und expressiven Kantilenen alle Register ziehen. Als ihre Schwester bietet Shannon Keegan ein fesselndes Charakterporträt. Dominic Große verleiht der Figur des Bruders gesangliche Glaubwürdigkeit. Als Mutter brilliert die Mezzosopranistin Maria Theresa Ullrich mit vielen klanglichen Facetten - und auch Stephan Bootz als energischer Vater bietet ihr markant Paroli. Eine ausgezeichnete Leistung zeigt ferner Elliott Carlton Hines als verzweifelter Berthold. Allen voran fasziniert der auch als Countertenor grandios agierende Tenor Marcel Beekman als undurchsichtiger Teufel, dessen Spitzentöne durch Mark und Bein gehen.

Die Staccato-Attacken des Orchesters treiben die Sänger dabei gnadenlos an. Der Antike Chor wird von den Neuen Vocalsolisten extended mit polyphoner Wandlungsfähigkeit gesungen. Elena Schwarz legt das kontrapunktische Geflecht der Partitur in differenzierter Weise offen, so entstehen immer neue Klanggebilde, die die Wiederholungen und Ostinato-Passagen dieser "Loop-Oper" nur umso eindringlicher machen. Der ständige rhythmische Vorwärtsdrang spitzt sich im Laufe des Abends mit enormer Kraft zu. Der Sprachraum wird so auch harmonisch bis zur äussersten Grenze mit Klangflächen aufgefüllt - Glissando- und Unisono-Passagen eingeschlossen.

Am Ende Begeisterung und verdienter Jubel des Publikums.
 

 

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