Logo of theaterkompass.de
HomeBeiträge
Albtraum in Afghanistan - Homebody/KabulAlbtraum in Afghanistan - Homebody/KabulAlbtraum in Afghanistan...

Albtraum in Afghanistan - Homebody/Kabul

Rafael Sanchez inszeniert Stück von Tony Kushner in Basel

Homebody heisst so viel wie Stubenhocker. Gemeint sind wir saturierten, relativ sorglosen, leicht verfetteten Mitteleuropäer in den hochzivilisierten Industrieländern, die wir in unseren Eigenheimen sitzen und von Abenteuern in fremden, geheimnisvollen, gefährlichen Ländern träumen.

 

Ein solches Stubenhockerexemplar, beheimatet in London, sehen wir in der ersten Stunde des bemerkenswerten Stücks des amerikanischen Erfolgsautors Tony Kushner. Eine Frau in mittleren Jahren. Ihre Tochter treibt sich ohne erkennbare Berufsziele herum. Ihre Ehe funktioniert nur noch, weil beide Partner Beruhigungsmittel nehmen. Die Stubenhockerin hat sich an einem uralten Reiseführer von Afghanistan festgebissen und nährt ihre Fluchtphantasien mit der Sehnsucht nach diesem seltsamen, geschundenen Land voller Grausamkeit, Zerstörung und Schönheit. Auch ein Mann geistert durch ihre Gedanken, ein Afghane in London, ein Händler, dem sie in seinem kleinen, orientalisch überfüllten Laden Hüte für eine Party abgekauft hat und den sie nicht vergessen kann.

Eine Stunde lang erzählt sie uns von ihrem Stubenhockerfrust, ihren Stubenhocker- begierden - und läuft dann unvermittelt weg.

Szenenwechsel. Wir sind in Kabul. Und erfahren, dass die Frau offenbar tatsächlich heimlich nach Afghanistan ausgerissen und dort spurlos verschwunden ist. Wurde sie auf einem Minenfeld ermordet? Verschwand sie in den Ruinen dieser zerstörten Stadt als burkabedeckte Frau eines afghanischen Huthändlers?

Jedenfalls sind ihr Mann und ihre Tochter nach Kabul gekommen, um die Verschollene zu suchen oder ihren Tod aufzuklären. Der stubenhockerische Mann tut keinen Schritt aus dem Hotel und lässt sich von einem inoffiziellen Angestellten der Regierung mit Drogen betäuben. Die Tochter wagt sich voller Tatendrang auf die Strassen, gerät an merkwürdige, in Geheimnissen redende Gestalten, die sie in einem aufreibenden Verwirrspiel ganz nah an die Wahrheit heran und wieder weit von der Wahrheit weg führen.

 

Ein langes, ungeheuer interessantes Stück. Ein wichtiges Stück. Es erzählt von der Kluft zwischen den Kulturen. Es erzählt davon, wie viel wir in unserem Infozeitalter von den schrecklichen Geschehnissen weit weg in einem orientalischen Land wie Afghanistan zu wissen glauben -- und wie wenig wir begreifen. Wie undurchschaubar die Vorgänge und die Menschen für die meisten von uns bleiben. Was für eine seltsame Sehnsucht und Abenteuerlust dieses Land in uns hervorrufen kann - und wie wenig wir der grausamen Realität, die unsere westliche Zivilisation irgendwie mitverschuldet hat, dann gewachsen sind.

 

Die Inszenierung von Rafael Sanchez zeigt das Stück in seiner ganzen Breite und Ratlosigkeit. Sie schildert klug und ohne Anmassung den Aspekt afghanischen Lebens, wie er in diesem verwirrenden Drama zum Leben erwacht - und die Hilflosigkeit unserer Stubenhockerkultur.

Das schöne Bühnenbild von Ricarda Beilharz arbeitet souverän mit westlichen und orientalischen Elementen, ebenso die Kostüme von Heidi Fischer.

Das Ensemble spielt ausgezeichnet, es sei hier mit einem Kollektivlob bedacht.

 

Premiere 2. November 2002 im Schauspielhaus Basel

Weitere Informationen zu diesem Beitrag

Lesezeit für diesen Artikel: 15 Minuten



Herausgeber des Beitrags:

Kritiken

Großstadtklänge --- „Surrogate Cities“ von Demis Volpi in der deutschen Oper am Rhein

Auf der leeren Bühne finden sich nach und nach das Orchester, die Tänzer und Tänzerinnen ein. Die Solo Posaune setzt ein und der Zuschauer wird in den Trubel der Straßen einer Großstadt versetzt. Zum…

Von: von Dagmar Kurtz

RÄTSEL UM ERLÖSUNG --- Wiederaufnahme von Richard Wagners "Götterdämmerung" in der Staatsoper STUTTGART

Die verdorrte Weltesche spielt bei Marco Stormans Inszenierung der "Götterdämmerung" von Richard Wagner eine große Rolle. Gleich zu Beginn zerfällt die Wahrheit in seltsame Visionen, der Blick der…

Von: ALEXANDER WALTHER

NICHT AUF DEN LITURGISCHEN BEREICH BESCHRÄNKT --- Bruckners e-Moll-Messe und Motetten bei BR Klassik

Anders als die frühe d-Moll-Messe blieb die 1866 in Linz komponierte e-Moll-Messe nicht auf den liturgischen Bereich beschränkt. Die alten Kirchentonarten stehen bei der Messe in e-Moll von Anton…

Von: ALEXANDER WALTHER

GLUT UND FEUER -- Jubiläumskonzert 40 Jahre Kammersinfonie im Kronenzentrum BIETIGHEIM-BISSINGEN

1984 wurde dieser für die Region so bedeutende Klangkörper von Peter Wallinger gegründet. Unter der inspirierenden Leitung von Peter Wallinger (der unter anderem bei Sergiu Celibidache studierte)…

Von: ALEXANDER WALTHER

EINE FAST HYPNOTISCHE STIMMUNG -- Gastspiel "Familie" von Milo Rau mit dem NT Gent im Schauspielhaus STUTTGART

Dieses Stück erzielte bei Kritikern zum einen große Zustimmung, zum anderen schroffe Ablehnung. Vor allem die nihilistischen Tendenzen wurden getadelt. Der Schweizer Milo Rau hat hier das beklemmende…

Von: ALEXANDER WALTHER

Alle Kritiken anzeigen

folgen Sie uns auf

Theaterkompass

Der Theaterkompass ist eine Plattform für aktuelle Neuigkeiten aus den Schauspiel-, Opern- & Tanztheaterwelten in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Seit 2000 sorgen wir regelmäßig für News, Kritiken und theaterrelevante Beiträge.

Hintergrundbild der Seite
Top ↑