Homebody heisst so viel wie Stubenhocker. Gemeint sind wir saturierten, relativ sorglosen, leicht verfetteten Mitteleuropäer in den hochzivilisierten Industrieländern, die wir in unseren Eigenheimen sitzen und von Abenteuern in fremden, geheimnisvollen, gefährlichen Ländern träumen.
Ein solches Stubenhockerexemplar, beheimatet in London, sehen wir in der ersten Stunde des bemerkenswerten Stücks des amerikanischen Erfolgsautors Tony Kushner. Eine Frau in mittleren Jahren. Ihre Tochter treibt sich ohne erkennbare Berufsziele herum. Ihre Ehe funktioniert nur noch, weil beide Partner Beruhigungsmittel nehmen. Die Stubenhockerin hat sich an einem uralten Reiseführer von Afghanistan festgebissen und nährt ihre Fluchtphantasien mit der Sehnsucht nach diesem seltsamen, geschundenen Land voller Grausamkeit, Zerstörung und Schönheit. Auch ein Mann geistert durch ihre Gedanken, ein Afghane in London, ein Händler, dem sie in seinem kleinen, orientalisch überfüllten Laden Hüte für eine Party abgekauft hat und den sie nicht vergessen kann.
Eine Stunde lang erzählt sie uns von ihrem Stubenhockerfrust, ihren Stubenhocker- begierden - und läuft dann unvermittelt weg.
Szenenwechsel. Wir sind in Kabul. Und erfahren, dass die Frau offenbar tatsächlich heimlich nach Afghanistan ausgerissen und dort spurlos verschwunden ist. Wurde sie auf einem Minenfeld ermordet? Verschwand sie in den Ruinen dieser zerstörten Stadt als burkabedeckte Frau eines afghanischen Huthändlers?
Jedenfalls sind ihr Mann und ihre Tochter nach Kabul gekommen, um die Verschollene zu suchen oder ihren Tod aufzuklären. Der stubenhockerische Mann tut keinen Schritt aus dem Hotel und lässt sich von einem inoffiziellen Angestellten der Regierung mit Drogen betäuben. Die Tochter wagt sich voller Tatendrang auf die Strassen, gerät an merkwürdige, in Geheimnissen redende Gestalten, die sie in einem aufreibenden Verwirrspiel ganz nah an die Wahrheit heran und wieder weit von der Wahrheit weg führen.
Ein langes, ungeheuer interessantes Stück. Ein wichtiges Stück. Es erzählt von der Kluft zwischen den Kulturen. Es erzählt davon, wie viel wir in unserem Infozeitalter von den schrecklichen Geschehnissen weit weg in einem orientalischen Land wie Afghanistan zu wissen glauben -- und wie wenig wir begreifen. Wie undurchschaubar die Vorgänge und die Menschen für die meisten von uns bleiben. Was für eine seltsame Sehnsucht und Abenteuerlust dieses Land in uns hervorrufen kann - und wie wenig wir der grausamen Realität, die unsere westliche Zivilisation irgendwie mitverschuldet hat, dann gewachsen sind.
Die Inszenierung von Rafael Sanchez zeigt das Stück in seiner ganzen Breite und Ratlosigkeit. Sie schildert klug und ohne Anmassung den Aspekt afghanischen Lebens, wie er in diesem verwirrenden Drama zum Leben erwacht - und die Hilflosigkeit unserer Stubenhockerkultur.
Das schöne Bühnenbild von Ricarda Beilharz arbeitet souverän mit westlichen und orientalischen Elementen, ebenso die Kostüme von Heidi Fischer.
Das Ensemble spielt ausgezeichnet, es sei hier mit einem Kollektivlob bedacht.
Premiere 2. November 2002 im Schauspielhaus Basel