Wenn es die wichtigste Aufgabe einer Theaterkritik wäre, das Publikum zum Besuch neuer Produktionen zu verführen oder davon abzuhalten, dann würde sich der folgende Artikel erübrigen. In Sachen "Europa für Anfänger" hat dieses Publikum, der Souverän, längst entschieden, gehört doch Erik Gedeons "Abend mit Türke" seit gut zehn Monaten zu den Rennern auf dem Spielplan des Kölner Schauspielhauses. Dass sich daran auch in der neuen Theatersaison nichts ändern wird, zeigte die Vorstellung am 27. August: dichtes Gedränge beim Einlass und in den Seitengängen, lange Schlangen auf dem Weg in den Zuschauerraum, kaum noch freie Plätze. Und am Schluss: Standing Ovations, nicht enden wollender Applaus und eine Begeisterung, als wolle man das (angesichts von gut zwei Stunden Bühnenpräsenz bestimmt reichlich ausgepumpte) Ensemble einfach nicht zu seiner wohlverdienten Ruhe kommen lassen.
Dass die Messlatte nach Gedeons vorheriger Inszenierung "Erdbeerfelder für immer", einer bissigen Satire auf das Beamtentum, seine Abarten und Abartigkeiten, hoch aufgelegt sein würde, war klar, hatte es doch schon die frühere Produktion zu viel umjubeltem Kultstatus gebracht. Diesmal im Mittelpunkt stehend das vielbeschworene "Europa der Nationen", seine Institutionen, Rituale und ethnischen Eigentümlichkeiten. Lustvoll und überdreht schwelgt die Aufführung in den sattsam bekannten Klischees, wonach es der Franzose kulinarisch, der Deutsche pedantisch, der Spanier leidenschaftlich, der Italiener kirchlich oder der Brite mit Understatement treibt. Ob Staatsbesuch oder Verhandlungsmarathon, Rededuell oder Protokollscharmützel, fast alles wird aufgeboten, um die Verhältnisse im ach so mühsam geeinten Europa unters szenisch-satirische Skalpell zu legen.
Und da wir in Sachen Europa natürlich alle keine Anfänger mehr sein wollen und zu wissen glauben, worum es geht, ist dies alles schon Zwerchfell erschütternd genug. Richtig spannend wird die Sache, als sich mit der Figur eines alerten, tanz- und sangesfreudigen Türken tatsächlich ein Neuankömmling einstellt, der der vermufft abgeschotteten Gemeinschaft so richtig den Angstschweiß auf die Stirn und den Rhythmus ins Blut treibt. Wahrhaft atemberaubend gestaltet sich das Ganze, als in Gestalt einer erblondeten Condoleezza Rice urplötzlich eine Weltpolizeidomina die Szene betritt, um den Anwesenden handgreiflich zu demonstrieren, was es mit der Pax americana (oder deren Gegenteil) auf sich hat. So muss erst (Theater-)Blut fließen, bevor sich bei zusammengebissenen Zähnen jene Harmonie einstellt, die der Produktion dann ihren hymnisch Beifall heischenden Ausklang sichert.
Wie pointenreich, fantasievoll und auf den Punkt genau sitzend all diese Momente ineinander greifen, lässt sich nicht beschreiben, sondern "nur" selbst erleben. Dies gilt auch für die brillant und mit viel Liebe zum Detail dargebotenen Musiknummern, deren Spektrum von Mozart und Beethoven über eine Fülle sattsam bekannter Evergreens ("Volare") bis hin zu Queen und Rammstein reicht. Dabei gehört die Frage, welches Schlagerkaninchen an welcher Stelle nun gerade aus dem Hut gezaubert wird, nicht zu den kleinsten Spannungsmomenten der Aufführung. Tatsache ist, dass bei alldem ein sympathisches und hochprofessionelles Sängerschauspielerensemble am Werke ist, aus dem sich Einzelne allein deshalb nicht hervorheben lassen, weil jeder seinen Part bis in die letzte Gebärde rund und typengenau ausfüllt.
So gerät Gedeons "Europa für Anfänger" zu einem Theaterereignis, das zwar weder Aufklärung noch Moral, dafür aber reichlich viel Gelächter vermittelt, was ja selbst dann ganz heilsam sein kann, wenn es einem hier und da im Halse stecken bleibt.
Ensemble - Europäer: Dirk Lange, Oliver Nitsche, Anja Laïs, Tom Jacobs, Jördis Triebel, Anja Herden; Türke: Andreas Grötzinger; Amerikanerin: Sandra Maria Schöner; Lolek (Klavier): Henning Brand; Bolek (Violine): Radek Stawarz
Inszenierung: Erik Gedeon
Premiere: Oktober 2005