Nora müsste glücklich sein. Sie hat einen erfolgreichen Mann, der soeben Bankdirektor geworden ist, zwei Kinder, ein behagliches Heim. Dass der Gatte sie wie ein süsses Dummchen behandelt, tut weh, ist aber in ihrer Welt nicht unüblich. Nora muss freilich mit einem lastenden Geheimnis aus der Vergangenheit leben. Ihr Mann war vor einiger Zeit monatelang krank. Ihr Vater springe solang mit dem nötigen Geld für den Lebensunterhalt ein, hat Nora damals behauptet, um die Genesung nicht zu stören. In Wirklichkeit hat sie die beträchtliche Summe heimlich von einem Bekannten geliehen und den Schuldschein mit der gefälschten Signatur ihres Vaters unterschrieben. Weil die Unterschrift einer Frau sowieso nichts gegolten hätte. Seither stottert sie die Schuld in kleinen Raten ab, die sie vom Haushaltsgeld wegspart, was der ahnungslose Ehegockel ständig mit gönnerhaft-spöttischen Bemerkungen über ihre "Verschwendungssucht" quittiert.
All das würde sie ertragen, um nur das kostbare Gebäude ihrer bürgerlichen Existenz nicht zu gefährden. Aber durch einen unsanften Stoß fällt der Schwindel plötzlich in sich zusammen wie ein Spielkartenhaus. Und die herabwürdigende Reaktion ihres Mannes, seine Feigheit, seine Verständnislosígkeit machen ihr schlagartig bewusst, wie fragwürdig diese Ehe ist, in der ihr als Frau nur die Rolle des fügsamen Kindes, nicht die des Lebenspartners zugestanden wird.
Im Jahr 1879 schrieb Ibsen sein grossartiges, zeitlos geniales Stück "Nora oder ein Puppenheim". Eine wahre Begebenheit aus seinem Bekanntenkreis hatte ihn dazu inspiriert. Im Brennglas dieser Geschichte beleuchtete er die damalige Rechtlosigkeit der Ehefrauen, ihre Unterdrückung und Zurücksetzung, und genauso die Überheblichkeit der einseitig privilegierten Männerwelt.
Ibsens Nora beschliesst am Ende, ihren Mann zu verlassen, obwohl ihr damit die gesellschaftliche Ächtung gewiss ist. Zu Recht wird dieser Schritt heute als unglaublich mutiger Emanzipationsversuch einer Dramenfigur jener Epoche bewundert. Ibsens Zeitgenossen hatten dafür weniger Verständnis. Die unüberhörbare Forderung nach Gleichberechtigung in der Ehe rief Entrüstung, ja Protest hervor. Später schrieb Ibsen dann unter dem Druck kleinmütiger Theaterdirektoren einen zweiten Schluss, in dem Nora den Kindern zuliebe bei ihrem unbelehrbaren Ehemann verbleibt, aber dies entsprach nicht seinem eigentlichen Konzept.
Es wäre eine vergleichende Untersuchung wert, wie sich heutige Inszenierungen diesem wunderbaren, immer noch provozierenden Werk nähern. Die weitgehende Gleichberechtigung ist ja gesetzlich fixiert, ein Drittel aller Ehen werden geschieden, das ist alltäglich, aber wie sieht es mit dem menschlichen Bewusstsein hinter den Gesetzen aus? Wenn da nicht noch vieles im Argen wäre, würde "Nora" vielleicht nicht zu den meistgespielten Dramen gehören. -
In Paderborn führte Maya Fanke Regie. Besonders aufschlussreich ist ihre Sicht auf den Ausgang der Geschichte. Nora bleibt im Puppenheim, aber nicht mit den kläglichen Worten des zweiten Ibsenschen Schlusses. Nein, Nora steckt sich trotz Rauchverbot eine Zigarette an, streift die Schuhe, also die Gehwerkzeuge ab und setzt sich zum Nachdenken in den Sessel. Vorderhand. Das Ende ist natürlich offen, aber Nora hat es heute eben nicht mehr nötig, überstürzt zu reagieren. Sie wird reiflich überlegen und dann eine freie Entscheidung treffen.
Im Übrigen strich Maya Fanke das Stück auf einen schlanken Verlauf zusammen und inszenierte dann in der Schwebe zwischen Werkbezogenheit und heutigen Interpretationsansätzen.
Am besten kam dabei die Hauptfigur zur Geltung. Tini Prüfert ist eine starke, eigenwillige Bühnenpersönlichkeit, die im Spiel zu kontrollierter Exzentrik neigt und über eine reiches Repertoire origineller Ausruckskräfte verfügt. Sie zieht die Nora ganz nah an sich selbst heran, also an eine heutige junge Frau. Trotzdem bleibt sie Ibsens Vorlage nichts schuldig. Im ständigen Schwanken zwischen Heldenmut und Nervenzusammenbruch, Hilfsbereitschaft und Trotz, Selbstbewusstsein und Unterwerfung kreiert sie eine höchst interessante, spannende Nora, die immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Die etwas unentschlossene Personenregie mit den halbherzigen Modernismen wirkte sich zu Lasten der übrigen Spieler aus. Noras anmassender Ehemann (Sven Reese), ihre komplizierte Freundin (Ariane Senn), der todkranke Freund (Wolfgang Grabow) und der unglückselige Geldverleiher (Thomas Heller) sind zwar beachtlich, zeichnen aber nicht klar genug die Konturen.
Das Bühnenbild von Julia Burde ist kein Puppenheim, sondern eher so etwas wie der Vorraum einer modernen Bank oder Unternehmensberatung. Schwarz und grau. Karg und schön. Noras Welt ist also von der Berufswelt des Gatten geprägt. Nur eine Schleierwand im Hintergrund schafft einen Hauch von privater Poesie.
Wir sind es gewohnt, in Klassikeraufführungen mit moderner Filmmusik traktiert zu werden. Das schwermütige Motiv aus "In the mood for love", erklingt freilich zu oft, zu zäh, was den Verdacht auf Einfallslosigkeit hervorruft.
Trotz gewisser Einschränkungen ist im Ganzen eine anspruchsvolle, ansprechende Inszenierung entstanden. "Nora" zu sehen ist auf jeden Fall ein Gewinn!
Premiere 7.2.2003