Palästina 1946. Ein polnisch-jüdisches Paar. Und ein palästinensisches Paar. Die beiden Juden hat es nach dem Holocaust hierher verschlagen; sie versuchen, in der fremden Welt eine Heimat zu finden. Palästina wird zu Israel. Die beiden Palästinenser müssen den jüdischen Einwanderern Platz machen, sie werden aus ihrem Haus geprügelt, und fühlen sich fortan in der eigenen Heimat als Vertriebene. Ihr Kind ist ihnen beim überstürzten Verlassen des Hauses abhanden gekommen, der Schmerz des Verlustes wird nie mehr zu stillen sein.
Sie wissen nicht, dass ihr Junge von den jüdischen Eheleuten als eigener aufgezogen wurde. Viel Zeit vergeht, zwanzig Jahre, randvoll mit Leid, mit Hass zwischen Juden und Palästinensern, mit Gewalt und Tod. Der jüdische Mann ist im Kampf gefallen, und als das palästinensische Paar sich endlich entschließt, sein ehemaliges Haus aufzusuchen, findet es dort die verhärmte jüdische Witwe und den Sohn, der bereits Soldat ist und sich als Jude fühlt. Eigentlich will nun der palästinensische Mann als Selbstmordattentäter das ganze Haus und alle seine Lieben und Gehassten in die Luft sprengen. Alle schreien ihre Vorwürfe noch einmal aus sich heraus. Dann geschieht in der Erschöpfung, in der Verzweiflung etwas Unerwartetes, fast Unmögliches. Der wortlose Beginn einer Verständigung zwischen den Verfeindeten, der Hauch eines gegenseitigen Verständnisses, der Schimmer einer Gemeinsamkeit. Zum Schluss wird wahrscheinlich eine sinnlose Explosion alle zarten Annäherungen vernichten, aber dieser schon nicht mehr erhoffte Silberstreif des Friedens ist doch einmal vor den Augen und in den Herzen der heillos Zerstrittenen erschienen.
Das ist die Geschichte, die der in Köln lebende iranische Autor Ali Jalali in seinem Stück „Nathans Tod in Jerusalem“ erzählt. Darüber hinaus hat er damit eine Ballade von der neueren Geschichte Israels/Palästinas geschrieben, die mit der Ankunft der Juden nach dem Holocaust, mit der Vertreibung der Palästinenser beginnt und mit den Selbstmordattentaten unserer Tage endet.
Es ist ein interessantes, dichtes Stück, mit einem liebevollen Blick auf die Einzelschicksale. Es verfällt nicht der Gefahr der Einseitigkeit. Seine Figuren, ob Juden oder Palästinenser, sind nicht die politischen Drahtzieher, es sind die Betroffenen, sie erscheinen gleichermaßen als Opfer, wenn auch nicht ganz unschuldige Opfer in einem leidvollen Konflikt.
Aus dem Stücktitel wird klar, dass Lessings „Nathan der Weise“, vor über zweihundert Jahren entstanden, mit seinem zeitlosen Anspruch an die Menschlichkeit der Anstoß zu diesem Stück gewesen sein muss. Der Autor meint: „Während Lessings Nathan noch mittels Ringparabel über die Gleichwertigkeit (Judentum, Christentum, Islam) für den Humanismus als Credo der Aufklärung eintritt, spiegelt „Nathans Tod in Jerusalem“ den Verlust dieses Glaubens im alltäglichen Konflikt. Ganz im Sinne der negativen Dialektik Adornos ist Humanität nur noch in ihrer Abwesenheit erfahrbar.“
Das scheint mir doch zu kurz gegriffen. Lessing sagte selbst in seinem "Nathan", dass die ersehnte Zukunft mit einem friedlichen und respektvollen Zusammenleben der Menschen verschiedenen Glaubens vielleicht
„in tausend tausend Jahren“ zur Wirklichkeit werde. Also war er sich der Utopie wohl bewusst, die er da heraufbeschwor. Diese Utopie ist auch heute nicht verschwunden, sondern dem schlimmsten Zerwürfnis immer als Möglichkeit immanent. Sie wird auch von Israelis und Palästinensern im Kleinen gelebt oder zumindest versucht. Davon handelt dieses Stück und ist damit der Lessingschen Philosophie näher als es der Autor vielleicht wahrhaben will. Nathan darf nicht sterben.
Ali Jalali hat das Stück mit seinem kleinen Ensemble selbst in Szene gesetzt. Das Kellertheater TIEFROT ist der bedrängend enge Lebensraum der Akteure. Die Zuschauer sitzen seitlich, wie Zaungäste eines unerbittlichen Geschehens. Abgeschabte Koffer symbolisieren die Unbehaustheit, sie werden wo es nötig ist zu Möbeln zusammengeschoben (Bühne Holger Hanewacker). Die kleine Kiste mit Wüstensand im Zentrum ist eine wunderbare Metapher für das spröde Stückchen Land, um das hier gekämpft wird.
Das Zusammenspiel der Akteure ist leidenschaftlich und immer lebendig, mit starken Anklängen an orientalische Ausdrucksformen. Marion Minetti, Sabine Brandauer, Carlos Garcia Piedra und Waldemar Hooge sind gleichermaßen zu loben.
Ein wichtiges Stück, ein wichtiger Theaterabend, dem eine große Verbreitung zu wünschen ist.
Uraufführung am 24. September 2005 im Theater TIEFROT
Weitere Vorstellungen: 25., 27., 28., 29.September
1., 2., 25., 26. Oktober
23., 24., 25., 26. November
jeweils 20.30 Uhr im Theater TIEFROT, Dagobertstraße 32 in Köln
www.alijalali-ensemble.de